Wofür die Worte fehlen

Carolin Philipps

Ueberreuter, 2010

128 Seiten, € 9,95

ab 14 Jahre

 

Inhalt:

Der 15-jährige Kristian lebt in einer scheinbar normalen Familie. Er kommt mit den Klassenkameraden prima klar und ist als guter Fußballspieler seiner Mannschaft eine wertvolle Stütze, wenn er nicht so oft wegen Magenschmerzen und Übelkeit fehlen würde. Der Vater hat eine eigene kleine Zimmererwerkstatt, die ganz gut läuft und auch die Mutter verdient dazu. Sie muss aber immer öfter in ihre Heimat, der Slowakei fahren und sich um ihre alte, kranke Mutter kümmern. Kristian fürchtet sich vor dieser Zeit, wenn die Mutter wieder von ungewisser Dauer von zu Hause weg ist. Der Vater nennt das immer die Zeit der „Männerspiele“ und „Männergeheimnisse“, denn nur richtige Männer können schweigen und damit die Ehre der Familie bewahren. Dieses Schweigen verursacht jedoch bei Kristian unerträgliche Magenschmerzen, die ihn auch in der Schule oft wie eine Lawine überrollen. Dazu nässt er oft nachts ein, was aber Vater und Sohn vor der Mutter verheimlichen; schließlich muss die Mutter ja nicht alles wissen. Kristians Leidenschaft ist das Manga-Zeichnen und das kann er richtig gut. In einem Zeichenkurs in der Schule kann er sein Talent beweisen und hier hat er endlich die Erfolgserlebnisse, die er in anderen Schulfächern leider nicht vorzeigen kann. Durch diese Zeichnungen durchbricht er sein Schweigen, was jedoch zunächst nicht alle Außenstehende verstehen bzw. hilflos gegenüber stehen lässt. Als das Schweigen unerträglich wird und Kristian die sexuellen, gewaltvollen Übergriffe seines Vaters auch auf seinen kleinen Neffen befürchtet, findet er den Mut, seinen Missbrauch anzuklagen.

Rezension:

Sexueller Missbrauch ist schon fast eine beschönigte Beschreibung für die unendlichen Qualen und Schmerzen, die sich dahinter verbergen. Denn hinter dem Wort „Missbrauch“ steht psychische und physische Gewalt. Carolin Philipps beschreibt den Leidensweg von Kristian, der sich von Seite zu Seite mit mehr Entsetzen und Fassungslosigkeit steigert. Hilflosigkeit und Unsicherheit zeigt sich nicht nur bei dem Opfer, auch bei Lehrern, Erziehern, die durch das merkwürdige Verhalten von Kristian aufmerksam werden. Diese Geschichte ist nicht von der Autorin erfunden. Es gibt diesen Jungen wirklich, Carolin Philipps hat ihn persönlich kennengelernt, seinen Namen und seine Geschichte für diesen Roman etwas geändert. Kristians einzige Insel und Möglichkeit über das für ihn unaussprechliche zu kommunizieren ist das Manga-Zeichnen, das er über alles liebt und für das er auch talentiert ist. Mit der Rahmenstory seines Mangas und den beiden Figuren des schwarzen Ritters, vor dem es kein Entrinnen gibt, und sein Sklave Masaru spiegelt Kristian die gewaltvollen sexuellen Übergriffe durch seinen Vater wieder. Die Zeichenlehrerin und ihre Tochter Sakura sind geübt im scharfen Beobachten und durchschauen Kristians Botschaft. Sakura versucht ihn mit Provokation zu einem Gespräch herauszufordern, was ihr zunächst aber nicht gelingt. Sehen die Lehrer zunächst nur einen unaufmerksamen, unkonzentrierten Schüler vor sich, der wesentlich mehr Potential in sich hat, als er durch Noten umsetzt, werden sie durch pornografische Fotos und Videos auf Kristians Handy aufmerksam und erkennen langsam, dass es da doch mehr als nur eine pubertäre Lustlosigkeit geben muss. Denn es gibt zwei Kristians in der Schule: Einen, wenn die Mutter da ist und einen ganz anderen, wenn die Mutter in der Slowakei ist. Kristian wird zur schulpsychologischen Beratung geschickt und verweigert natürlich aus Angst und Scham jedes offene Gespräch. Obwohl Kristians Lehrer aufmerksam nachhakt und sogar Kristians Mutter die ungeheuerliche Vermutung darlegt, bleibt zunächst alles beim Alten. Erst durch den Übergriff seines Vaters auf den kleinen Neffen, der noch ein Baby ist, und der Unterstützung von Sakura, die ihm immer wieder erklärt, dass auch ein schwarzer Ritter eine verwundbare Stelle hat und das Masura „siegen“ bedeutet, findet Kristian den Mut, sein Schweigen zu brechen.

Carolin Philipps ist es gelungen, auf nur 126 Seiten in einer sehr ruhigen Sprache und kurzen Sätzen einen sehr berührenden und erschütternden Einblick in das über Jahre hinweg, durch gewaltvollen Missbrauch, tief verletzte Seelenleben eines Heranwachsenden zu beschreiben. Man wird nicht wirklich die unendlichen psychischen und physischen Qualen von Kristian nachvollziehen können. Die unglaubliche perfide Manipulation durch den Vater mit seinem ekligen Spagat zwischen Großzügigkeit und Unterdrückung bestürzt und zeigt, wie sehr Kinder ihre Eltern in Schutz nehmen, ganz gleich was sie ihnen an Leib und Seele antun.

Kristian ist in diesem Roman nur ein Name für viele andere, die mit ähnlichem Schicksal leben. Es ist eine Geschichte, die sich wahrscheinlich öfter wiederholt, als wir es uns vorstellen wollen. Das Buch rüttelt auf, macht aufmerksam und lässt den Satz zurück: „Schuld hat immer der Täter, nie das Opfer“.

Man kann nur hoffen, dass sich dieser Satz einbrennt und den Opfern Mut macht, ihren Missbrauch anzuzeigen.

Einen treffenderen Titel hätte man nicht wählen können, auch das Cover ist absolut stimmig ausgewählt.

Carolin Philipps hat 2011 in der Kategorie Jugendbuch für „Wofür die Worte fehlen“ den österreichischen Jugendbuchpreis gewonnen.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

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