Martina Wildner
Beltz & Gelberg, Juli 2011
208 Seiten, € 12,95
ab 11 Jahre
Inhalt:
Die neue Arbeitsstelle des Vaters lässt die Familie Reitsch von Sachsen nach Bayern in ein kleines Dorf ziehen. Hendrik, 13 Jahre und sein kleinerer Bruder Eddi, der noch in den Kindergarten geht, versuchen sich in der neuen Umgebung und in dem großen, dunklen, neuen Haus einzugewöhnen. Das ist für die ganze Familie nicht immer einfach, weder für die Mutter im allgemeinen Dorfleben noch für Hendrik in der Schule. In der ersten Nacht wacht Eddi auf und malt mit Kreide Nacktschnecken auf die Wand.
Diese Schnecken faszinieren den Kleinen auf Anhieb und er findet sie auch in großen Mengen im Garten. Doch die nächtlichen Aktionen von Eddi, begleitet von merkwürdigen Schneckengemälden, werden regelmäßig und verwirren alle Familienmitglieder. Da Eddi sich am nächsten Morgen nicht wirklich daran erinnert, was er in der Nacht gemacht hat, gehen alle davon aus, dass es an den normalen Problemen der Eingewöhnung liegt und vielleicht auch an der schaurigen alten Tapete, die in seinem Zimmer hängt. Als die Eltern Eddis Zimmer renovieren wollen, entdecken sie merkwürdige Zeichnungen und drei Wörter, die keinen Sinn ergeben. Obwohl die Eltern dem zunächst keine große Bedeutung beimessen, erfährt Hendrik, dass in diesem Haus früher eine Familie mit zwei Söhnen gelebt hat, die ermordet wurden. Seitdem hält kein Mieter es lange in dem Haus aus, weil es darin angeblich spukt. Hängen Eddis mysteriöse Nachtwanderaktionen und seine Schneckenleidenschaft vielleicht in einem Zusammenhang mit den getöteten, früheren Mietern? Hendrik begibt sich in ein abenteuerliches, schauriges Detektivabenteuer.
Rezension:
Vielleicht muss man gebürtig aus Bayern stammen, um so differenziert und auch kritisch über das Leben und Einleben zu schreiben bzw. schreiben zu dürfen. Martina Wildner darf das, schließlich ist sie in Obergünzburg in Bayern geboren. Es ist für Familien heute selbstverständlich, dass sie für eine ( bessere bezahlte) Arbeitsstelle ihr gewohntes Leben, ihr langjähriges Umfeld, freundschaftliche und soziale Netze verlassen müssen. Oft machen sie das im Familienverbund um einer Wochenendbeziehung, die auch nicht glücklich macht, entgegenzuwirken. Das dies jedoch ebenfalls alles andere als einfach ist, beschreibt die Autorin in dieser Geschichte am beschriebenen Wechsel zwischen den beiden Bundesländern Sachsen und Bayern. Die Familie Reitsch zieht aus einer Stadt in Sachsen mitten ins pralle bayerische Dorfleben. Ohne in die Klischeekiste zu greifen, werden Eigentümlichkeiten und Verhalten der Dorfbewohner fein nuanciert beschrieben, ohne diese zu bloßzustellen, auf die sich die Familie nur schwer einstellen oder manchmal überhaupt verstehen kann. Erschwerend kommt die Sprachbarriere hinzu, wenn sächsische Mundart oder reines Hochdeutsch auf tiefstes, bayerisches Dialekt trifft. In feinen, hintergründigen Sätzen wird das Gefühl beschrieben, dass nicht unbedingt das, was für Einheimische einfach nur „schön“ ist, andere nur als schön „aussehend“ empfinden, was allerdings ein sehr großer Unterschied ist. Obwohl alle Familienmitglieder sich darum bemühen, in das neue Lebensumfeld einzuleben und irgendwie anzukommen, gelingt ihnen das nicht, was an unterschiedlichen Begebenheiten liegt. Das dunkle Haus, an denen keine Veränderungen vorgenommen werden dürfen, erleichtert es der Familie nicht wirklich, zur Ruhe zu kommen. Jede Nacht wacht der kleine Eddi wimmernd auf und wandelt durch das Haus oder zeichnet Schneckengemälde. Auch wenn es in dieser Geschichte um ungesühnte Mordfälle in der Vergangenheit geht , kommt sie ohne großes, blutiges Gewaltgemetzel aus, obwohl eine dunkle und mysteriöse Atmosphäre über diese Spurensuche liegt. Die Spannung wird subtil aufgebaut und bis zum Schluss stimmig gehalten. Die übernatürliche Verbindung von Eddie zu einem der ermordeten früheren Hausbewohner ist schon eine ganz speziell-schaurige Idee, sie entwickelt sich jedoch durchdacht, wobei es am Ende in der Tat schon fast ein wenig zu übersinnlich wird. Was ich an dieser Geschichte so sympathisch fand, ist die Tatsache, dass der Rückzug der Familie in ihre sächsische Heimatstadt nicht als ein persönliches Scheitern dargestellt wird, sondern dass man herausgefunden hat, wo man hingehört und sich da wohlfühlt, wo man die „Sprache“ versteht und auch von anderen ohne große Erklärungen verstanden wird. Bei manchen Mentalitätsunterschieden hilft auch das bemühte „Paßt` scho`“ einfach nicht mehr.
Eine schaurig-spannendes Abenteuer in einem mysteriösen Haus mit ganz normalen und trotzdem sonderbaren Dorfbewohner, die fein nuanciert und ohne Klischees beschrieben sind.
In manchen Gegenden (Deutschlands) muss man wahrscheinlich hineingeboren worden sein, um sie „schön“ zu finden und noch mehr, sich wohl und angekommen zu fühlen. Sachsen grenzt immerhin geografisch an Bayern. Wie mag es dann rheinischen Frohnaturen ergehen, die auf tiefste bayerische Umgangsweise, Sprache und Traditionen treffen? 😉
Sabine Hoß
Bewertung:
Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier: