Ulrike Herwig
Marion von Schröder Verlag/Ullstein, August 2011
272 Seiten, € 14,90
„all age“
Inhalt:
Familie Thieme freut sich auf den wohlverdienten Jahresurlaub in Schottland: Karen
Thieme, eine Mitvierzigerin und solide Bankangestellte, ihr Mann Bernd, der ein leidenschaftlicher Leser von Reiseführern ist, aber deutlich weniger Leidenschaft für seine Frau zeigt. Komplettiert werden die beiden von ihren Kindern Mark, der mit seinen 14 Jahren alle Freuden eines Pubertierenden mit sich bringt und die kleine Teresa, die mit ihren 6 Jahren noch Fragen stellen darf, die Erwachsene zwar denken, aber nicht mehr fragen dürfen. Doch bevor die Reise losgeht, will sich Karen noch von ihrer Großtante Martha, verabschieden. Schließlich kümmert sich Karen regelmäßig um sie, wenn auch nicht unbedingt rührend. Das geschieht nicht so ganz uneigennützig, denn Karen erwartet von Tante Martha ein noch ungewisses Vermögen als Erbe. Als Tante Martha die Tür öffnet, steht sie mit gepacktem Köfferchen, Regenschirm und dem Reiseziel entsprechend, mit einem Schottenrock bekleidet, reisebereit vor ihrer völlig konsternierten Nichte. Alle vorsichtigen Hinweise von Karen, wie anstrengend eine solche Reise für eine kränkliche alte Dame über achtzig sei, wischt Tante Martha mit dem kleinen Hinweis einer möglichen Änderung ihres Testamentes beiseite. Außerdem habe sie etwas ganz Wichtiges in Schottland zu erledigen. Damit belegt Tante Martha einen weiteren Sitz im Familienvan und macht die Reise nach Schottland zu einem unerwarteten, erfrischenden und lebendigen Abenteuer. Nicht zuletzt, weil die Familie plötzlich von Marthas Pokerleidenschaft überrascht wird und sie bisher nichts über Marthas Detailkenntnisse von Schottland wusste.
Rezension:
Eigentlich ist das hier vorliegende Buch kein klassisches Kinder- oder Jugendbuch. Da es
aber den herrlichen „all age“-Begriff für die Bücher gibt, die von 12 bis 100 Jahren gelesen werden können, nehme ich mir die Freiheit, diesen herrlichen Roman in dieser Kategorie einzureihen.
„Tante Martha im Gepäck“ ist ein humorvolles Roadbook mit einer Familie, in der man
seine eigenen Familienmitglieder, mit einer Portion Humor, auch sich selbst oder zumindest ähnliche Personen im Bekanntenkreis wiedererkennt, ohne jedoch peinlich berührt zu sein. Ulrike Herwig hat eine hervorragende Beobachtungsgabe und kreiert damit eine zunächst völlig harmlose und ganz „normale“ Familie. Schon nach wenigen Seiten hat man sich mit den Protagonisten Karen und Bernd angefreundet. Die Nöte mit
Pubertierenden 14-jährigen oder die neugierigen Fragen ungehemmter Sechsjähriger erkennt man sofort wieder und ein ähnliches Faktotum wie Tante Martha hat wohl auch fast jeder in seiner Familie. Man reist als blinder Passagier mit nach Schottland und ist Zeuge vieler herrlicher, komischer Szenen, die man mit lautem Auflachen oder zustimmenden Grinsen begleitet. Dabei werden diese Begebenheiten nicht mit künstlichem Humor zu klischeehaften Schenkelklatschern aufgeputscht, sondern sie kommen mit subtilem Humor aus, der aber genau ins Schwarze trifft. Natürlich übertreibt die Autorin auch schon mal an der einen oder anderen Stelle, was man aber der Geschichte gerne verzeiht. In einer lebendigen und manchmal auch ironisch-sarkastischen Sprache lernt man nicht nur die liebevoll und exakt beschriebenen Charaktere kennen, sondern auch den humorvoll verpackten Hinweis auf unsere Vorurteile gegenüber der
Senioren-Generation. So tüddelig und verschroben, wie wir die älteren Herrschaften von außen sehen, sind sie oft nicht. Wir kommen heute kaum noch richtig miteinander ins Gespräch, was dann immer ein etwas bizarres Bild von den älteren Herrschaften hinterlässt. Auch Tante Martha ist so ein nettes Beispiel dafür und je länger sie mit den beiden Kindern von Karen und Bernd zusammen ist, desto jünger erscheint sie – und drei Generationen scheinen davon zu profitieren. Die Beziehung zwischen Karen und ihrem Mann Bernd ist nach vielen eingespielten Ehejahren, zwei Kindern, den Jobs bei Bank und Bau und vielen Alltagsproblemen und -problemchen ziemlich eingeschlafen und abgekühlt. Auch hier fungiert Tante Martha charmant und unverblümt im Hintergrund als eine Art Gewissens-Mediatorin, den Rest erledigt das herrliche Schottland, wohin man am Ende des Buches sofort reisen möchte.
Vor der Kulisse Schottlands ist ein wunderbarer Familienroman über Beziehungskrisen, das Älter werden und das Alter an sich gelungen, der drei Generationen mit Humor und Augenzwinkern verbindet. Er hebt sich wohltuend aus der Masse ähnlicher leichter Familiengeschichten ab, weil er einmal nicht so sehr in die pralle Klischeekiste greift, dafür akzentuierter und tiefsinniger auf den Punkt beschreibt. Somit in der Tat ein „all age“-Roadbook für Leserinnen und Leser zwischen 11 und 100 Jahre.
Mein nächstes Reiseziel heißt Schottland – am liebsten mit einer Tante Martha! 🙂
Zum Cover: „Thema leider völlig verfehlt“ – so würde ein Schüler die Note für zu
diesem Buchumschlag finden.Weder das Meer, noch eine Möwe in Gummistiefel haben eine tragende Rolle in der Geschichte und das Bild ist so nichtssagend wie unzutreffend zum Buchinhalt, noch ist ein Hingucker. Sehr schade, hier hätte der Verlag mehr Sorgfalt und Nähe zum Buch walten lassen können.
Sabine Hoß
Bewertung:
Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier: