John Boyne
Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel
Mit Bildern von Oliver Jeffers
Fischer Schatzinsel, März 2012
240 Seiten, € 13,99
ab 10 Jahre
Inhalt:
Der achtjährige Noah reißt von zu Hause aus weil er der Meinung ist, dass er mit seinen fünf großen Leistungen eher unterdurchschnittlich ist und damit ein unauffälliger Junge im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen ist. Nachdem Noah eine Weile unterwegs ist, entdeckt er einen sonderbaren Baum und trifft auf einen alten Dackel und einen immer hungrigen Esel, mit denen er ins Gespräch kommt. Sie machen ihn auf den geheimnisvollen Spielzeugladen ihres Freundes aufmerksam, den Noah nach einigem Zögern betritt. Hier gibt es ausschließlich nur Holzspielzeug in allen Formen und wunderbaren Farben und außergewöhnliche Marionetten. Der alte Holzschnitzer erzählt Noah aus seinem Leben, in dem es einige Parallelen zu Noahs Geschichte zu geben scheint. Als Noah eine alte Holzkiste entdeckt und sie öffnen darf, ist er zunächst vom Inhalt enttäuscht: Statt der erhofften alten Briefe und Fotos sind wieder nur alte Marionetten drin. Doch es sind diesmal ganz besondere Puppen, denn zu jeder gehört eine ganz spezielle Geschichte, die der alte Mann Noah erzählt: Von einer nicht glücklichen Schulzeit, dem Erfolg als schnellster Läufer der Welt und einem nicht eingehaltenem Versprechen, dass das Leben des alten Mannes vor vielen Jahren grundlegend veränderte. Diese Geschichten berühren Noah sehr und er traut sich langsam dem wahren Grund seines Abhauens zu stellen.
Rezension:
Märchen sind in der von Fantasygeprägten Jugendliteratur in den Hintergrund gerückt. Umso mutiger von John Boyle, der durch seinen Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ internationalen bekannt wurde, sich mit einer Parabel diesem Genre zu nähern. In einer ruhigen, poetischen Sprache überträgt er menschliche Figuren in Tiergestalten; die Geschichten der Marionetten erzählen die Erinnerungen des alten Mannes, in denen zahlreiche märchenhafte Elemente eingebunden sind. In den Rückblicken des alten Mannes verstecken sich kleine verborgene Botschaften, die sich auch zwischen den Zeilen verstecken. Die lebendig gewordenen Erinnerungen durch die Marionetten werden durch die Gespräche des alten Mannes mit Noah abgewechselt, was spannend wie interessant aufgebaut ist. Einen ganz besonderen Kniff hat sich John Boyle bis zum Schluss aufgehoben, als dem Holzschnitzer klar wird, dass er nun ein alter Mann ist und bereut, dass vor vielen Jahren sein größter Wunsch Wahrheit geworden ist. Doch selbst, wenn man jetzt glaubt zu wissen, welche Figur man vor sich hat, wird man mit einer weiteren Wendung erneut überrascht. Durch die Gespräche und Einsichten mit dem alten Mann bekommt Noah langsam den Mut, sich dem eigentlichen Grund seines Weglaufens zu stellen. Sein Versprechen, den Holzschnitzer wieder zu besuchen, verliert sich aber im Laufe der Jahre. Doch zehn Jahre später erhält er an seinem achtzehnten Geburtstag einen Brief, der ihn daran erinnert und ihm die Möglichkeit gibt, seinen lang gehegten Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
John Boyle hat eine bezaubernde Erzählung geschrieben, die Fabel und Märchen auf eine berührende Weise verbindet und in der bestehende Märchenfiguren mit geschickten Wendungen weiterleben. Die Quintessenz des Buches ist im Hier und Jetzt bewusst zu leben und den Menschen, die wir lieben, Zeit und Nähe zu schenken. – Und dass man nicht versuchen sollte, etwas anderes darzustellen, als das, was man ist.
Ein wunderschönes, modernes Märchen in einem ganz neuen Gewand zum Vor- und Selberlesen für Erwachsene und Kinder.
Sabine Hoß
Bewertung: