Avram Kantor
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler
Hanser, September 2012
240 Seiten, € 14,90
ab 14 Jahre
Inhalt:
Der 18 Jahre alte Gil aus München will seinen Zivildienst in einem Altersheim in Tel Aviv leisten und seine dort lebende Großmutter Nechamke kennenlernen, die er bis dahin noch nie gesehen hat. Seitdem sein Vater Jaki sich vor vielen Jahren in seine deutsche Frau Anna verliebt und geheiratet hat und mit der Familie in München lebt, hat er zuletzt seine Mutter bei der Beerdigung seines Vaters gesehen. Jakis Vater Menachem Silber hatte ihm damals gesagt: „Kein Deutscher wird jemals dieses Haus betreten. Auch Deine Frau nicht und ihre Kinder.“ Doch der Großvater ist tot und Gil will endlich die Wurzeln seiner Familie väterlicherseits kennenlernen. Jakis Bruder Avri lebt in Israel und kümmert sich um seine Mutter, soweit es ihm sein Beruf und seine Familie zulässt. Als er seiner Mutter erzählt, dass ihr deutscher Enkel sie besuchen will, wimmelt sie dies zunächst entschieden ab. Auch sie hat die Worte ihres Mannes immer noch im Ohr. Keiner der beiden Brüder weiß, was ihre Eltern im Krieg erlebt haben, dass sie mit ihrem Urteil und Verdammung so konsequent und entschieden den Familienbruch herbeigeführt haben. Sie haben nie darüber geredet und als Jakis Vater einmal danach gefragt hat, war ein Wutausbruch die einzige Reaktion. Gil setzt sich über alles hinweg und steht eines Tages vor Oma Nechamkes Tür. Nechamke ist von der Gils Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Mann überwältigt und schließt ihn, trotz heftiger Widerstände, in ihr Herz. Gil erzählt ihr von seinem Vorhaben, mit einem deutschen Freund in den Norden des Landes zu reisen. Als bei einem schweren Busunglück von mehreren Toten, auch Deutschen, die Rede ist und Gil unerreichbar bleibt, beginnt für die ganze Familie eine furchtbare, quälende Zeit der Ungewissheit und Angst. Als wenn das nicht genug wäre, bangt man auch um das Leben des anderen Enkel Guy, dem Sohn von Avri. Er ist beim israelischen Militär und man befürchtet, dass er bei einem Einsatz ums Leben gekommen ist. Die Angst und Sorge um die beiden Kinder und Enkel bringt die geteilte Familie wieder zusammen, was für alle nicht einfach wird.
Rezension:
Dieses Buch fällt aus dem großen Einheitsbrei der Kinder- und Jugendbuchliteratur heraus. Avram Kantor betrachtet die Folgen der Shoa von einer ungewöhnlichen und kaum beachteten Seite und es ist kein Roman, den man mal so nebenbei liest. Kantor beschreibt die vielschichtige Familienkonstellation mit sehr viel Sensibilität und Detail, leider manchmal zu ausufernd, beispielsweise wenn die uninteressanten Beziehungsprobleme von dem Sohn und Enkel Guy oder die seitenlangen Gedanken des Professor Sad unnötig viel Raum einnehmen. Das bringt eine gewisse Langatmigkeit in die Handlung, was schade ist. mit den Die Kernhandlung dreht sich um die folgenreiche Verdammung, die Vater Menachem Silber damals seinem Sohn Jaki ausgesprochen hat und die auch nach seinem Tod seine Ehefrau Nechamke nicht aufgehoben ist. Beide haben im Holocaust Schreckliches erlebt, über das sie niemals mit ihren Kindern gesprochen haben, was sich wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen geschoben hat. Als dann ihr jüngster Sohn Jaki ausgerechnet mit einer Deutschen ankommt und sie auch noch heiraten will, ist das Urteil eindeutig und unmissverständlich. Jaki zieht die Konsequenz, heiratet seine Liebe und bleibt in Deutschland und gründet eine Familie. Zu seinem Bruder hält er weiterhin Kontakt, doch es bleibt eine Distanz. Es ist ein Abriss über eine geteilte, zerrissene Familie, die durch das Erlebte der Eltern während der Shoa im Ungewissen geblieben ist und sich dadurch eine Mauer des Schweigens und Unsicherheiten gebildet hat. Als Jaki seine Liebe zu einer Deutschen eröffnet, muss er sich entscheiden: Entweder seine Liebe oder seine Familie. Jaki entscheidet sich für seine Liebe und eine neue Familie. Seine Mutter Nechamke ist auf der einen Seite eine Frau, die eine untrennbare Liebe zu ihrem Mann Menachem verbindet, untrennbar und fast schon hörig. Sie weiß, dass sie nie die Möglichkeit bekommen hätte, ihren deutschen Enkel kennenzulernen, würde ihr Mann noch leben. Doch Gils Ähnlichkeit zu ihrem verstorbenen Mann hält sie als Genehmigung, Menachems Verbot aufzuheben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Auch wenn Avram Kantors Sprache manchmal unnahbar wirkt und er sich in Details wiederholt, man bleibt an diesen Familienwirrungen- und irrungen dran. Die Anspannung der verzweifelten Eltern, die beide um ihre Söhne bangen, ist so geschickt aufgebaut und in die Handlung verflochten, dass man die Ängste und Qualen teilt. Und genau diese Sorge um das Leben ihrer Kinder bringt die zerrissene und geteilte Familie wieder zusammen.
Der Roman zeichnet das Bild einer Familie, der durch die Erlebnisse der Eltern während des Holocaust mit unnachgiebigen Schweigen und harten Konsequenzen folgenschwere Weichen für die Zukunft gestellt wurden. Es sind keine Weichen, die in eine offene, unbeschwerte Zukunft führen.
Ein Buch, dass die Aufarbeitung des Holocaust und die Beziehung zwischen den Generationen sowie Israel und Deutschland auf eine ganz besondere, sensible und auch sehr nachdenklich machende Weise präsentiert. Die Geschichte zeigt, wie mächtig die Folgen und Auswirklungen der mittlerweile aussterbenden Generation, die den Holocaust erlebt haben, auch für jungen Menschen der Gegenwart sind.
„Schalom“ ist sicher kein Buch, das unisono Jugendliche begeistern wird. Dafür ist die Geschichte oft zu spröde und an einigen Stellen zu langatmig. Dennoch ist es ein wichtiges Buch, dass deutlich macht, das man niemals vergessen darf und dennoch die Generationen der Kinder und Enkel die Möglichkeit – und auch das Recht – haben sollten, ihr Leben zu leben und damit Brücken in der Gegenwart, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu bilden.
Mirjam Pressler hat diesen außergewöhnlichen Roman aus dem Hebräischen feinfühlig übersetzt. Sie hat auch den 2008 bei Hanser erschienenen Jugendroman „Die erste Stimme“ des Autors übersetzt, der die Auszeichnung „Die besten 7“ erhielt.
Das Cover ist fast unscheinbar aber verbindet treffend.
Sabine Hoß
Bewertung: