Stefanie de Velasco
Kiepenheuer & Witsch, 15. August 2013
288 Seiten, € 16,99
ab 16 Jahre
„Für Mädchen“ – ihnen hat die Autorin Stefanie de Velasco ihren ersten Roman gewidmet. Dabei wäre es jammerschade, wenn dieses gelungene Debüt wirklich nur weibliche Leser finden würde, auch wenn zwei 14-Jährige die Hauptfiguren sind. Die Ich-Erzählerin der außergewöhnlichen Freundschaftsgeschichte ist Nini. Sie lebt mit ihrer Mutter, deren Lebensgefährten und ihrer jüngeren Schwester Jessi in Berlin. Nicht im schicken Wohlstandsviertel, sondern da, wo viele Ausländer leben und die Häuser wie die Menschen leicht heruntergekommen sind.
Ninis Freundin Jameelah wohnt im gleichen Block, seit sie lesen und schreiben können, sitzen sie in der Schule nebeneinander und sind unzertrennlich. Jameelah kommt aus dem Irak. Nachdem ihr Vater und Bruder dort ermordet wurden, weil sie sich „eingemischt“ haben, flüchtete ihre Mutter mit Jameelah nach Deutschland. Obwohl Berlin fast ihre zweite Heimat geworden ist, hängt das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über ihnen.
Mit ihren 14 Jahren fühlen sich die beiden Mädchen ziemlich erwachsen; sie trinken Tigermilch, eine gewagte Mischung aus Maracuja-Saft, Milch und Mariacron (denn Müllermilch ist was für Kinder ), tragen kurze Röcke mit Ringelstrümpfen an der Kurfürstenstraße, wo sich auch der Straßenstrich befindet. Aber sie „üben“ nur mit den Männern, indem sie ihnen Kondome überziehen oder Petting haben. Das große Projekt der Entjungferung möchten sie lieber mit dem Jungen haben, in den sie wirklich verliebt sind, was für Nini Nico ist und für Jameelah Lukas. Mit Nico, der die Stadt mit seinen „Sad“-Graffitis verziert, hängen die beiden auch gerne gemeinsam mit anderen Freunden ab. Dazu gehört auch Amir, den die beiden Mädchen beschützen, da er weder von den Jungs noch von den Mädchen ernst genommen wird. Außerdem sein großer Bruder Tarik und die jüngere Schwester Jasna, die sich in einen Serben verliebt hat, was für Tarik unvorstellbar ist und es daher immer Streit gibt, wenn die drei aufeinander treffen. Nini und Jameelah werden eines Tages heimlich Zeugen, wie der Konflikt zwischen Tarik und Jasna eskaliert. Dieser Tag verändert für die beiden Freundinnen alles. Die einst so innige und unverwüstliche Freundschaft droht zu zerbrechen.
Stefanie de Velasco, 1978 in Oberhausen geboren, hat einen eigenwilligen Roman in einem eigenwilligen Erzählton geschrieben. Nini und Jameelah sind zwei unterschiedliche Teenager und ergänzen sich trotzdem auf innige Weise, auch wenn sie zuweilen ruppig miteinander umgehen. Beide lieben verrückte und alberne Einfälle, wie beispielsweise die Sprachspielereien, indem sie die Selbstlaute in Worten austauschen. Die beide 14-Jährige fühlen sich zwar schon ziemlich erwachsen, aber mit ihrem Entjungferungsprojekt oder Diddlmäusen, von denen sie sich nicht trennen, zeigen sie auf sympathische Weise ihre Unerfahren- und Kindlichkeit. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie unbemerkt Zeugen der brutalen Familieneskalation zwischen Tarik und seiner Schwester Jasna werden, scheint das Leben für sie ein großes Spiel in ihrer eigenen Welt, mit eigenen Regeln und Wertvorstellungen zu sein; überschattet von Jameelahs berechtigter und ständiger Angst vor einer Abschiebung. Doch ab diesem Moment geht ein Ruck zwischen Nini und Jameelah und ihren Freunden, der sie reifen und erwachsener werden lässt. Während Nini intuitiv weiß, was sie tun will und muss, hat Jameelah große Angst davor, Stellung zu nehmen und die Folgen zu akzeptieren. Sie weiß aus den bitteren Erlebnissen ihrer Familie im Irak, was es heißt, sich einzumischen.
Interessant ist die Tatsache, dass die Erzählerin Nini Musik aus dem Film „Bodyguard“ mag; ein Film, der eher zu der Generation der heute Mittvierzigern passt. Ein kleines Beispiel dafür, dass der Roman in zeitlich nicht festgelegt ist, denn direkte Bezüge zu aktuellen technischen oder musikalischen Wiedererkennungsmerkmalen sucht man vergeblich. Das hat die Autorin klug aufgestellt und durchgezogen.
Ninis und Jameelahs Sprache ist geradeheraus, derb und zweitweise schlittert sie an leicht vulgärem Ausdruck vorbei. Aber es gibt auch sehr schöne poetische und nachdenklich machende Gedanken und Passagen, die sich mit groben, sanften, melancholischen Stimmungen abwechseln. Der Ton passt zu den beiden rebellierenden Teenagern, die einem im Laufe der Geschichte ans Herz wachsen und versuchen, sich durch den bizarren Großstadtdschungel Berlins in ihrem Lebensumfeld und nach ihren Vorstellungen durchzuboxen. Selbst wenn man Berlin nicht kennt, bekommt man eine Ahnung von dem Sound dieser Stadt, der im Leben der beiden Protagnistinnen gespielt wird.
„Tigermlich“ ist eine hintergründige Entwicklungs- und Freundschaftsgeschichte zweier ungewöhnlicher Mädchen, in dem es um Sehnsucht und Verlust geht. Tragisches, komisches, abenteuerliches und skurriles verbinden sich in einer frechen, erfrischenden Sprache in diesem Roman.
„Für Mädchen“ lautet die Widmung, das macht nachdenklich bis misstrauisch. Sicher ist es kein Jugendbuch im „klassischen“ Sinne. Doch es ist –Gott sei Dank- auch keine Fortsetzung à la pubertierende „Hanni und Nanni in der Großstadt“ oder ein für Jugendliche weichgespültes „Shades of Akne“. Dafür ist es ein überzeugendes Debüt einer jungen Autorin, das bitte nicht nur von Mädchen gelesen werden sollte.
Das Cover passt perfekt, die Farbe erinnert an Tigermilch. Ein Becher mit Maracuja-Saft, Mariacron und einem Schuss Milch – eine Mischung, die gewagt ist und trotzdem irgendwie genial schmeckt. Wie dieses Buch.
Sabine Hoß
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