Anna Kuschnarowa
Beltz & Gelberg, September 2013
416 Seiten, € 14,95
ab 14 Jahre
Anna Kuschnarowa hat sich in „Djihad Paradise“ einem Thema zugewandt, das man nur selten in der Jugendliteratur antrifft, dabei ist es aktuell und wird nur allzu gerne verdrängt. Grundlage der Geschichte ist die Freundschaft und Liebesgeschichte zwischen Julian und Romea, die in Berlin leben und aus völlig unterschiedlichen Familienverhältnissen kommen. Während Julians Vater ohne Job völlig im Selbstmitleid und Alkohol versumpft , nachdem ihn seine Frau verlassen hat, versucht Julian mit Dealergeschäften und Einbrüchen ein bisschen Geld die Haushaltskasse aufzufüllen. Romea hat keine Geldsorgen, ihre Mutter ist Anwältin und ihr Vater Architekt. Trotzdem ist sie und ihre jüngere Schwester immer alleine und auf sich gestellt, sogenannte Wohlstandswaisen.
Nachdem Julian mal wieder von einer Schule geflogen ist, landet er in Romeas Klasse zu einem Neustart. Julians Leidenschaft ist die Musik und er träumt von einer Karriere als Rapper. Romea liebt das Meer und träumt sich gerne und oft in eine Welt unter Wasser, ihr Traumberuf ist Meeresbiologin. Als Romea ein Rapp-Konzert von Julians Band besucht, springt der Funkt über und die beiden verlieben sich. Beide haben ihr Leben und ihre Eltern satt und hauen gemeinsam ab. Bis Barcelona sind sie gekommen, als man bei Julian Drogen findet und ihn auch noch einen Einbruch nachweisen kann. Julian wird in ein Berliner Gefängnis überführt, wo er ein halbes Jahr verbringt und für Romea geht der Alltag nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihren Eltern weiter. Während Romea sehnsüchtig auf Julian wartet, freundet er sich nach anfänglicher Feindschaft mit seinem Zellengenossen Murat an. Der betet oft und regelmäßig auf seinem Gebetsteppich, was ihm offenbar eine gewisse Stärke gibt. Obwohl Julian zunächst sehr skeptisch ist, fasziniert ihn Murats Gebetrituale und er versucht es auch. Murat erklärt ihm, dass durch einen Salafisten aus seiner alten Gang dem muslimischen Glauben nahe gekommen ist. Und als Salafist steht er dem muslimischen Glauben in einer sehr obsessiven Weise nahe, denn „die anderen Muslime sind nur halbe Menschen, weil sie sich von den Regeln der Vorfahren abgewendet haben.“
Julian vermisst Romea sehr und hat große Angst, dass sie ihn verlässt, gleichzeitig glaubt er, dass er nicht gut genug für sie ist. Während er von diesen Gefühlen hin und her gerissen wird, betet er, zunächst nur aus Neugier, gemeinsam mit Murat. Dabei taucht Julian in eine Art Trance ab und fühlt sich leicht und aufgehoben. Es scheint sich für ihn durch das Gebet eine neue Tür in ein anderes, besseres Leben zu öffnen und er will von Murat alles über den muslimischen Glauben und den Propheten wissen und taucht immer tiefer in diese Religion ein. Das ändert sich auch nicht nach seiner Gefängniszeit. Er versucht auch Romea die Faszination und Wichtigkeit dieses muslimischen Glaubens zu vermitteln. Romea ist zunächst sehr skeptisch und merkt, dass sich Julian und ihre Beziehung verändert haben. Als Murat aus dem Gefängnis entlassen wird, findet er Unterschlupf in Julians Wohnung, was die Beziehung zu Romea nicht einfacher macht. Doch auch sie wird neugierig, lässt sich von ihrem Freund in die Gebetsrituale einweisen und will mehr über den Islam und den Glauben erfahren. Allerdings hinterfragt sie einiges und betrachtet viele Dinge von verschiedenen Seiten, während Julian einfach nur aufsaugt. Eines Tages hat Julians Dealer seine Wohnung aufgespürt und fordert brutal sein Geld ein, dass er ihm schuldet. Julian kann abhauen, und auch Murat und Romea gelingt die Flucht. Durch Murat finden sie alle Zuflucht in der „Salafiyya-Bruderschaft“. Eine Gemeinschaft, in der sie Geborgenheit bekommen, aber auch ein durch den streng fundamentalistischen, reglementierenden Glauben ein eingeschränktes und unselbständiges Leben erfahren. Alle drei rutschen unbemerkt immer tiefer in die Gesetze der Bruderschaft hinein. Soweit, dass Julian plötzlich Abdel Jabbar Shahid wird und Romea zu Shania. Abdel wird ausgesucht, in Alexandria drei Monate lang eine „Sprachschule“ zu besuchen, die Grundlage für eine Ausbildung als Gotteskrieger in Pakistan. Shania ist entsetzt über diese Entwicklung, doch Abdel ist längst blind für jeden Ansatz von Zweifel…
Abwechselnd erzählen Julian/Abdel und Romea/Shania aus ihrem Leben, das sich im Laufe der Geschichte dramatisch verändert. Ihre Sprache ist jugendlich und frech, aber niemals aufgesetzt oder anbiedernd. Beide Charaktere wirken authentisch und lebensnah, wobei Romea mehr hinterfragt und anzweifelt und Julian vieles ungefiltert aufsaugt. So entstehen zwei völlig unterschiedliche Perspektiven, den Islam zu betrachten, was die Religion nicht in ein eindimensionales Licht setzt. Julian sucht verzweifelt einen festen und ruhigen Platz in seinem Leben, den er zum ersten Mal bei Romea findet. Als er dann durch den Drogenfund und Einbruchnachweis wieder mal alles vermasselt hat, ist er völlig zerrissen. Romea wie Julian sind Jugendliche, die mit ihrem Leben und Elternhaus, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen, unzufrieden und enttäuscht sind. Und diese Kombination scheint die willkommene Einladung für ein Hinübergleiten in eine fanatische Glaubensgemeinschaft der Salafisten zu sein, die ihnen nur oberflächlich ein geborgenes Familiengefühl bietet.
Die Autorin beschreibt ausführlich und nachvollziehbar die Gebetsrituale und Traditionen des Islam und gibt einen klaren Einblick in die verführerischen Fänge der Salafisten. Ebenso interessant und aufrüttelnd sind die Beschreibungen aus den Ausbildungslagern in Pakistan. Sie wirken so real, dass man den Dank der Autorin im Nachwort an Herrn X und Herrn Y für gewisse Informationen versteht, die sie ohne sie nicht bekommen hätte, was eine intensive Recherchearbeit zeigt.
Der Sog des religiösen Wahns und seine brutalen, radikalen Folgen sind sicher nicht alltäglich bei Jugendlichen. Aber in diesem beeindruckenden und bewegenden Roman zeigt Anna Kuschnarowa, wie schnell man Jugendliche mit einer extremen Ideologie einfangen kann, wenn sie keinen festen Rückhalt von Familie oder Freunden haben.
Ein brisantes und aktuelles Thema spannend, aufrüttelnd und mit authentischen Charakteren in einer lockeren, lebendigen Sprache verpackt.
Perfekt und stimmig die orientalisch anmutende Gestaltung des Covers.
Sabine Hoß
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