Antonia Michaelis
Oetinger, August 2013
480 Seiten, € 17,95
ab 16 Jahre
Mit „Der Märchenerzähler“ (Oetinger, 2011) hat Antonia Michaelis gezeigt, wie facettenreich sie in der Kunst des Erzählens ist. Es folgten weitere Bücher („Die Worte der weissen Königin, 2011, „Solange die Nachtigall singt“, 2012 und das Kinderbuch „Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus“, 2013, alle Oetinger), doch keines konnte sich für mein Empfinden sprachlich und inhaltlich mit dem „Märchenerzähler“ messen. Auch wenn es vielleicht nicht ganz gerecht ist, dass an dem großen Märchenerzähler-Erfolg alles Weitere gemessen wird, manchmal braucht es eben seine Zeit, diese Leistung und den Erfolg zu wiederholen. Mit „Nashville oder das Wolfsspiel“ ist es der Autorin eindeutig gelungen, ihr Talent als grandiose Erzählerin und ihren Platz in der Jugend- und Erwachsenenliteratur zu bestätigen.
Die achtzehnjährige Svenja kommt für ihr Medizinstudium nach Tübingen. Zum ersten Mal bestimmt sie ihr Leben ganz alleine und freut sich mit gespannter Neugier auf diese Herausforderung. Svenja findet in ihrer heruntergekommenen kleinen Wohnung in einem ebenso baufälligen Haus einen Jungen, der genauso verwahrlost ausschaut wie ihre Bude. Der etwa 11-jährige Junge steht auf dem Kopf in ihrem Küchenschrank und schweigt. Svenja versucht herauszufinden, wie er heißt, warum er ausgerissen ist und wohin er gehört. Doch der Junge bleibt stumm. Auf seinem dreckigen T-Shirt steht „Nashville“ und fortan ist das sein Name. Svenja steckt in einer Zwickmühle: Einerseits geht für sie das anstrengende Medizinstudium und Lernen weiter, andererseits kann und will sie den Jungen nicht vor die Tür setzen. Zwar reißt Nashville immer wieder aus, doch genauso regelmäßig kehrt er zu Svenja zurück. Svenja ist eine junge Frau, die zum ersten Mal alleine ihr Leben und das anstrengende Studium in den Griff bekommen muss. Als sie dann den Jungen in ihrem Küchenschrank auf dem Kopf stehend findet, will sie sich unbedingt alleine dieser Herausforderung stellen, doch sie merkt bald, dass sie dem Jungen ohne Unterstützung nicht gewachsen ist. Da Svenja erst seit kurzem in Tübingen, kennt sie nur eine Handvoll Menschen: Da ist Friedel, der wie Svenja Medizin studiert, aber viel lieber etwas anderes machen möchte. Statt etwas zu ändern ertränkt er lieber seinen Frust im Alkohol. Katleen, die geheimnisvoll und unnahbar scheint, dann aber ohne viel zu Fragen unkompliziert Svenja zur Seite steht, als diese ihre Hilfe braucht. Die Studenten Kater Carlo und Thierry sind Freunde von Friedel und damit auch ihre. Und da ist Gunnar, der HNO-Arzt, der an seiner Doktorarbeit sitzt. Das allerdings weniger aus Überzeugung sondern mehr, um den Erwartungen seines zukünftigen Schwiegervaters und seiner zukünftigen Ehefrau gerecht zu werden. Diese Gruppe begleitet sie durch die Geschichte um den Jungen Nashville, der auf der Straße gelebt hat und immer wieder ausbricht, wenn er von bestimmten Situationen überfordert wird.
Man würde zu viele Spoiler setzen, würde man mehr ins Detail der Story gehen, doch es geht um mehr als die Frage, wie man einen kleinen Jungen, der auf der Straße lebt und offenbar ein traumatisches Erlebnis hatte, bändigt und ein Zuhause geben kann. Wie „Der Märchenerzähler“ ist der Roman komplex und vielschichtig – und weit mehr als ein psychologischer Thriller, der von Liebe, Verrat und Vertrauen erzählt. Er fordert vom Leser die Bereitschaft, vieles zu hinterfragen und sich auf mehrdeutige Charaktere und widersprüchlich erscheinende Situationen einzulassen.
Das Buch ist auf drei Säulen gebaut: Eine klug durchdachte Handlung mit immer wieder überraschenden Wendungen und mit einem Spannungsbogen, der trotz kleiner Längen bis zum Schluss fesselt. Extravagante Figuren, die alle ambivalent undurchschaubar sind und bleiben. Antonia Michaelis schreibt in einer intensiven poetischen Sprache, die mit markanten bildhaften Vergleichen Szenen und Orte in eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre taucht. Während dieser Stil in „Solange die Nachtigall singt“ ein „touch too much“ war, hat die Autorin hier wieder eine ausgewogene Balance gefunden. Ein wenig stört das das beschriebene Klischee, dass Studenten in abbruchreifen Häusern „wohnen“, leichtfertig ständig Gras rauchen, das sie selber auf dem Balkon ziehen. Aber das liegt vielleicht daran, dass ich das als erwachsener Leser so empfinde.
Der Grund für den Zusatz im Titel „und das Wolfsspiel“ entdeckt man beim Lesen des Romans und ist im übertragenen Sinne raffiniert gelöst.
Mit diesem Buch hat Antonia Michaelis wieder einmal bewiesen, dass sie mit ihrem außergewöhnlichen Schreibstil ambivalente Figuren und vielschichtige Themen zu einem höchst fesselnden Lesegenuss verpacken kann.
Das Cover passt perfekt.
Sabine Hoß
Bewertung:
Ein Interview mit der Autorin zu diesem Buch findet Ihr hier:
Außerdem gibt es auf der Seite noch ein weiteres Interview mit Antonia Michaelis