Das Reich der Tränen

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Janine Wilk

Thienemann, 14. Februar 2014

224 Seiten, € 12,99

ab 11 Jahre

 

 

 

Mia lebt mit ihren Eltern und ihrem Hund Goldie in einer großen Stadtvilla. Der Vater hat eine eigene kleine Firma, die ihn sehr einspannt. Die Mutter ist nicht berufstätig, dennoch immer mit irgendetwas beschäftigt, was sie aber scheinbar nicht ausfüllt und zufrieden macht. Mia hat Angst vor den ständig wechselnden Launen ihrer Mutter, die von jetzt auf gleich von Sanftmütigkeit zu brutalen Wutausbrüchen wechseln können. Jeden Tag hat sie die Küche gründlich sauberzumachen, eine Arbeit, die sie aber für ihre Mutter nie zufriedenstellend erledigt, was eine Bestrafung zur Folge hat. Wenn Mia von der Schule heimkehrt, fragt sie sich ängstlich, ob heute einer der guten Tage bei ihrer Mutter ist oder ob sich ihre angestaute Wut über irgendetwas wieder mit aller Macht an ihr ausgelassen wird. Diese Ausbrüche der Mutter verletzen Mia nicht nur verbal, sie wird auch handgreiflich ihrer Tochter gegenüber. Mia ist eine schwache Leserin, daher muss sie mit ihrer Mutter üben. Jedes Mal, wenn sie einen Fehler macht, wird sie von ihrer Mutter mit einer Ohrfeige bestraft, was die Lernbereitschaft steigern soll. Von Mias Vater kann sie keine Hilfe erwarten, er meidet jede Konfrontation mit seiner Frau. Um den Schmerz und die Gemeinheiten ertragen zu können, flüchtet Mia in die Welt der Fantasie und in das Land Diadala. Dort herrscht die böse Königin Zenoide, die Mias geliebten Kometendrachen Goldiur für ihre eigene Zwecke beschlagnahmt. Mia weiß, dass ihr Drache  in Gefangenschaft nicht lange überleben wird und beschließt ihn zu befreien. Die Burg der Königin Zenoide ist eine uneinnehmbare Festung, die nur mit einem speziellen Schlüssel zu öffnen ist, der aus vier besonderen Teilen besteht. Mia macht sich im Land Diadala auf eine abenteuerliche und spannende Reise, diese vier Teile zu suchen und damit das Schloss des Königspalastes zu öffnen. Sie begegnet Menschen, die ihr helfen und denen sie hilft, sie muss Rätsel erkennen und Aufgaben lösen, bis sie am Ziel ihrer Reise angekommen ist.

Geschickt und feinfühlig verwebt die Autorin Mias Leben in der Realität mit ihrer Traumwelt, in der sie zu ihrem Schutz eintaucht. Mias Fantasiewelt unterteilt sich in zwei Ebenen, einmal in der Rahmenhandlung im Land Diadala, dem „Reich der Tränen“. In der zweiten Ebene werden ähnliche Personen und Handlungen aus der Realität mit eingebunden. Obwohl die Gefahr bei einer Vermischung von Fantasie und Realität groß ist, rutscht Janine Wilk nie in Gefühlsduselei oder Kitsch ab, was eine besondere Leistung ist. Außerdem stellt sie unaufdringlich aber klar heraus, dass die Fantasie nur bis zu einer bestimmten Grenze hilfreich ist. Feinfühlig und poetisch beschreibt sie die Ängste von Mia, ihre tiefe Traurigkeit und Verzweiflung. Vor jedem Kapitel hat Janine Wilke ein passendes Zitat aus bekannten anderen Kinderbüchern wie „Momo“, „Die unendliche Geschichte“ oder „Der Kleine Prinz“ gesetzt.

Während Mia in der Fantasiewelt Menschen findet, die ihr helfen und sie weiterbringen, stößt sie in der Gegenwart dagegen auf Erwachsene, die ihr zwar manchmal zuhören aber hilflos, überfordert und gefangen in ihrer eigenen Situation sind und ihr nicht helfen. Die Kraft ihrer Fantasiewelt ist das Einzige, was Mia als Schutz und Trost bleibt. Selbst ihre geliebte Oma entschuldigt das Verhalten ihrer Tochter damit, dass auch sie keine schöne Kindheit gehabt habe. Zudem hat Mia Angst, dass ihre Mutter Ärger bekommt, wenn sie ihrer Oma noch ausführlicher über ihre Verletzungen und Angst berichtet.

„Im Reich der Tränen“ kommt Mia an ihr Ziel, nicht aber ohne Opfer zu bringen. Sie muss erkennen, dass sie das Reich der Tränen verlassen muss, um ihren Kampf weiterzukämpfen. Ein trauriges aber ehrliches Ende, das zeigt, das Fantasie zwar Trost und Schutz bietet, aber man irgendwann den Mut und die Kraft finden muss, sich der Realität zu stellen und Hilfe zu suchen.

In der Realität endet die Geschichte für Mia zunächst ohne einen Hoffnungsschimmer, ohne einen erkennbaren Weg, wie sie aus dem Gefängnis der gewalttätigen mütterlichen Allmacht entkommen kann. Das ist der Einzige, aber ein nicht unwichtiger Kritikpunkt, den ich an dieser Geschichte habe. Zwar ist im letzten Kapitel erkennbar, dass die erwachsene Mia nun selber Mutter von zwei Kinder ist und einen guten Weg gefunden haben muss, um mit sich und ihrer Vergangenheit Frieden zu finden, nur ist nicht erkennbar, wie sie es geschafft  hat.

Häusliche Gewalt in ein Kinderbuch zu verpacken ist eine Herausforderung, denn das Thema von physischen und psychischen Missbrauch an Kindern wird ungern von der Gesellschaft thematisiert und noch seltener findet man es klug und kindgerecht in einem Buch verarbeitet. Janine Wilk ist ein vielschichtiges, aufrüttelndes Buch zu diesem Thema gelungen. Sensibel zeigt sie die Ängste der Kinder, ihre Ohnmacht und die Tatsache, dass sie selbst dann die Schuld bei sich suchen, wenn sie von Elternteilen gequält werden. Gnadenlos zeigt die Autorin das bewusste Wegschauen der Erwachsenen, aber auch die Überforderung und Hilflosigkeit.

Eine Geschichte, die nachdenklich macht und nachhallt.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

 

 

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