Salah Naoura
Einband und Vignetten von Stefanie Jeschke
Dressler, Januar 2014
160 Seiten, € 12,95
ab 8 Jahre
Eigentlich geht es in Henriks Familie sehr ruhig und beschaulich zu. Jeden Sonntagmorgen um neun Uhr trifft man sich gemeinsam am Frühstückstisch: Der zehnjährige Henrik, seine vier Jahre ältere Schwester Fabienne nebst Eltern. Ebenso pünktlich fährt eine kleine Dampflok vom Dachgeschoss-Hauptbahnhof durch das ganze Haus, die mit lautem Pfiff das Signal zum Frühstücksbeginn gibt. Henriks Vater arbeitet bei der Bahn und liebt Züge über alles. Das komplette Dachgeschoss besteht aus einer riesigen Modelleisenbahnfläche. Hier fahren alle Züge ohne Verspätungen und Anschlussschwierigkeiten. Die Mutter ist Landschaftsgärtnerin mit Herz und Seele. Ihr Bromelienbeet im eigenen heiß geliebten Garten ist ihr ein und alles. Henriks ältere Schwester ist sehr auf ihr optisch schönes Erscheinungsbild bedacht und will später Model oder Schauspielerin werden. Nur Henrik hat nicht wirklich ein Hobby und weiß auch noch nicht, was er später mal werden will. So lebt die Familie in unaufgeregter Idylle bis eines Tages Oma Cordula auf der Matte steht. Keiner wusste bisher etwas von der Cordula, die Mutter von Henriks und Fabiennes Mutter und somit sehen alle die Oma zum ersten Mal. Eigentlich ist sie seit Jahren in einem Pflegeheim, doch das ist aus unerfindlichen Gründen abgebrannt und nicht nur der Pflegeheimleiter hat Oma Cordula in Verdacht, dass sie etwas damit zu tun hat. Während die Familie über die neue Situation ziemlich konfus ist, nistet sich die Oma ziemlich entspannt und gemütlich in Henriks Familie ein. Sie vertraut Hendrik im Geheimen an, dass ihr Vater bei Kriegsbeginnn drei Goldbarren nicht weit vom Haus vergraben hat. Da bisher kein Schatz gehoben wurde, müssten das Gold irgendwo noch dort liegen. Als plötzlich die gesamte Familie den wunderschön gepflegten Garten in ein Meer von Löcher verwandelt, selbst Anwohner im nahen Stadtpark buddeln, wird Henrik klar, dass er mittlerweile nicht mehr der Einzige ist, der das „Geheimnis“ kennt. Plötzlich verändert sich die Familie und alles bisherige wird auf den Kopf gestellt…
In einer leichten, heiteren Sprache erzählt Salah Naoura eine humorvolle und warmherzige Familiengeschichte mit Tiefgang. Es geht im Wesentlichen um Gier und der damit verbundenen Tatsache, dass sich dadurch Werte, Grundsätzlichkeiten und Beziehungen zwischen den Menschen ziemlich verändern. Allein die plötzliche Erscheinung von Oma Cordula wirft die Familie aus der Bahn. Eine Oma, die keine Oma ist, wie man sie sich gemeinhin vorstellt, sondern eine schräge, schrille Type mit bezauberndem Charme, bei der man sich nicht sicher ist, ob sie wirklich durcheinander ist oder alle nur genial an der Nase herumführt. Salah Naoura füllt ebenso die Nebenfiguren mit viel Liebe und Detail aus, wie den schrulligen Nachbarn Herr Gumpert, der mit seinem Guckrohr alles im Blick hat oder Henriks bester Freund Jonas und sein nepalesischer Spürnasenhund. Mit augenzwinkerndem Biss und feinem Witz verbindet der Autor geschickt absurde, verrückte und realistische Situationen und Entwicklungen. Naoura hat ein gutes Gespür für die Gefühle, Sorgen und Nöte von Kindern und schafft es immer wieder schwierige, kompakte Themen in einer leichten, heiteren Geschichte zu verpacken, die trotz Humor nie oberflächlich ist.
Jeder – und nicht nur C-Stars, die aus einem selbstgewählten Dschungel wieder befreit werden wollen -, hat sicher schon einmal gedacht: „Hilfe! Ich will hier raus!“ Somit ist dieser herrliche und passende Titel ein Wegweiser, an wen dieses Buch gerichtet ist: An alle Leser und Vorleser von 8 bis unendlich.
Salah Naoura, Jahrgang 1964, Sohn eines syrischen Vaters und deutscher Mutter, hat schon mit vielen anderen, preisgekrönten Kinderbücher und Übersetzungen sein Talent und Können gezeigt. So erhielt er 2013 den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Übersetzung des Kinderromans „Der unvergessene Mantel“ von Frank Cottrel Boyce (Carlsen), 2012 stand sein Kinderbuch „Matti und Sami“ (Beltz & Gelberg) auf der Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, 2011 erhielt er für dieses Buch den Peter Härtling-Preis.
Das vorliegende Buch stand bereits vor dem Erscheinungstermin auf der Nominierungsliste zum Deutsch-französischen Jugendliteraturpreis 2014 und man darf gespannt sein, ob es auch hierzulande auf der einen oder anderen Preisliste zu finden ist. Zu wünschen wäre es dem Buch und Autor jedenfalls.
Ein witziges wie passendes Titelbild und Vignetten an jedem Kapitelanfang von Stefanie Jeschke runden das gelungene Werk ab.
Sabine Hoß
Bewertung:
Ein Interview mit dem Autor findet Ihr hier: