My Book of Life by Angel

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Martine Leavitt

Aus dem kanadischen Englisch von Clara Drechsler und Harald Hellmann

Thienemann, 19.03.2014

256 Seiten, € 14,99

ab 14 Jahre

 

 

 

Kanada, Eastside von Downtown Vancouver. Für die 16 Jahre alte Angel bricht eine Welt zusammen, als ihre Mutter stirbt. Ihr Vater bietet keinen Halt und sie schafft es nicht, immer für ihren kleinen, sechs Jahre alten Bruder Jeremy stark zu sein. Angel flüchtet in die Einkaufsmall. Die verschiedenen Läden werden ihr Zufluchtsort, die Buchhandlung ihr Zuhause. Fast selbstverständlich klaut Angel immer wieder mal kleinere Sachen, vor allem Schuhe haben es ihr angetan. Kurioserweise klaut sie aber immer nur einen einzelnen Schuh. Eines Tages wird sie von Call erwischt, als sie einen Peeptoe in den Rucksack stecken will. Er verrät sie aber nicht, sondern lädt sie freundlich zum Essen ein. Call kommt immer wieder und ist für sie da, verwöhnt sie. Zunächst ist Angel misstrauisch und fragt ihn, ob er keine Arbeit hat, ob er studiert und was für ein Geschäftsmann er ist. Doch Call weicht aus und verspricht Angel den Himmel auf Erden, worauf sie sich bald einlässt. Call gibt ihr „Zückerchen“, die sie abfliegen lässt. Schnell ist Angel von den Drogen abhängig und bevor sie ihren neuen Freund durchschaut hat, ist sie komplett von ihm abhängig. Sie muss auf den Babystrich gehen und finanziert mit dem Verkauf ihres Körpers das großspurige Leben von Call. Angel lernt Widow kennen, die auf dem Erwachsenenstrich arbeitet. Widow warnt sie vor einem schwarzen Van, der einem geheimnisvollen Mr. P gehört und angeblich Prostituierte tötet. Beweise gibt es keine, wohl aber verschwinden immer wieder Kolleginnen von Widow und Angel, die nie wieder auftauchen. So vermisst Angel seit einiger Zeit ihre Freundin Serena, die ihr Geld unter Angels Matratze gebunkert hat, aber bisher nicht abgeholt hat. Als Call die 11-jährige Melli mitbringt, ist Angel verzweifelt. Wie kann man ein so kleines, unschuldiges Kind zu einer Sexarbeiterin anheuern? Sie beschließt für zwei zu arbeiten, damit Melli verschont wird und zerbricht beinahe daran…

Die vielfach ausgezeichnete kanadische Autorin Martine Leavitt, Jahrgang 1953, hat eine fiktive Geschichte mit  realem Hintergrund geschrieben. Tatsache ist, dass seit 1983 auf der Eastside von Downtown Vancouver viele junge Frauen spurlos verschwunden sind. Drogen und Prostitution gehören zu einem der ärmsten Viertel Kanadas selbstverständlich dazu. Obwohl seit Anfang der Achtziger Jahre viele junge Frauen, vornehmlich Sexarbeiterinnen, verschwunden sind und Angehörige nach ihnen gesucht haben, tauchten sie nie wieder auf.  Mit dieser Angst, dass irgendein Ungeheuer sein bestialisches Unwesen treibt, muss Angel wie ihre Kolleginnen tagtäglich leben.                                    Leavitt lässt die Hauptfigur Angel durch ein Notizbuch, dass sie wie eine Art Tagebuch führt, ihr „book of life“ erzählen. Die offene Versform ist sicher stilistisch ungewohnt, trotzdem ist man von der ersten bis zur letzten Seite an von der tiefen Erzählkraft angezogen.  Angel erzählt ungeschönt und klar von ihrem Leben, ihrem Abstieg. Ein Leben voller Abhängigkeit, Drogen und brutaler Sexarbeit, in das sie durch Naivität und auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit nach dem Tod ihrer Mutter hineingerutscht ist. Auf vielfältige Weise, manchmal sensibel, zerbrechlich wirkend, dann wieder hart und kalt gibt Angel dem Leser einen Einblick in Ihr zerrüttetes Seelenleben. Sie würde zwar wieder gerne nach Hause, schämt sich aber für das, was aus ihr geworden ist. Angels schnörkel- und schonungslosen Gedanken sind verzweifelt, schwanken zwischen Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, irgendwann vielleicht doch abhauen zu können.

Wie ein roter Faden und eine Metapher zieht sich das epische Gedicht „Das verlorene Paradies“ von John Milton durch den Roman, das unter anderem von der Versuchung von Adam und Eva durch Satan, dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Garten Eden erzählt. Ein Freier von Angel lässt sich von ihr immer aus dem neunten Buch vorlesen, dabei würde Angel gerne auch die anderen Bücher kennen – und vielleicht ist das zwölfte, das letzte Buch des verlorenen Paradieses ihre Rettung.

„Zückerchen“, wie Call die Drogen nennt sind oft der Einstieg in die Abhängigkeit der Prostitution. Ein Strudel, dem die jungen Frauen gerne entfliehen würden, aber nicht wissen, wie sie das anstellen sollen und sich zudem auch schämen, nach Hause zurückzukehren.

In einer dichten, beklemmenden Atmosphäre ist es der Autorin mit außergewöhnlichem, literarischem Stilmittel überzeugend gelungen, ein brisantes Thema aufrüttelnd und bewegend zu beschreiben.

Clara Drechsler und Harald Hellmann haben Angels Sprache in facettenreicher poetischer Klaviatur von sensibel, zart bis schleifchenlos und hart hervorragend transponiert.

Das Buch, das im Original übrigens den gleichen Titel hat, präsentiert sich mit einem blassen, fast unscheinbaren, unauffälligen Cover. Zarte Engelsflügel und Klebestreifen ergeben ein passendes Bild, das dankbar auf unpassenden Kitsch verzichtet.

Sabine Hoß

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