Ben Fletchers total geniale Maschen

Ben Fletchers Maschen KLEIN

T.S. Easton

Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel

Ueberreuter, 20. Januar 2015

320 Seiten, € 14,95

ab 12 Jahren

 

 

Es gibt Bücher, die katapultieren während des Lesens in die Vergangenheit, bestenfalls in eine gute Zeit. So ist es mir mit „Ben Fletchers total geniale Maschen“ von T.S. Easton gegangen. Mit einem rechts und einem links war ich sofort wieder in die Handarbeitsstunden ab Klasse 8 versetzt. Ein furchtbares Fach für mich, direkt hinter Mathe. Was habe ich die Jungs um ihren Werkunterricht beneidet, in dem wirklich tolle Sachen gemacht wurden, während wir uns mit hässlichen Stick-, Strick- und Häkelsachen abmühten. Gekrönt wurde das von katastrophalen Versuchen meinerseits an der Nähmaschine, um Knopflöcher zu stanzen, pardon, zu nähen oder andere Merkwürdigkeiten, die bei meinen Klassenkameradinnen immer viel besser aussahen. Das Gute an diesem Unterricht war, dass uns die Handarbeitslehrerin am Anfang der Doppelstunde einen Arbeitsauftrag für die nächsten 90 Minuten gab und dann regelmäßig verschwand, um erst fünf Minuten vor Unterrichtsende wieder aufzuschlagen.

Das zweite Gute war, dass wir Mädchen eine ziemlich gute Gemeinschaft hatten und so war schnell der Deal gemacht, dass ich während der neunzig Minuten die Aufgabe „love to entertain you“ hatte, indem ich unter anderem Lehrer nachahmte oder andere Späße zum Besten gab. Dafür versuchten die Klassenkameradinnen von meinen übrig gebliebenen Handarbeitsaufgaben zu retten, was nicht mehr zu retten war. Den kummersamen Rest übernahm dann daheim meine liebe Oma, der eigentlich die noch ansehnliche Note für „textiles Gestalten“ gebührte. Der Hang zum „Entertainment“ ist mir geblieben, kreatives und textiles Gestalten mit zwei Händen ist mir allerdings bis heute fern, auch wenn ich es in seltenen Momenten bedaure. Doch das ist eine andere Geschichte.

In „Ben Fletchers total geniale Maschen“ zeigt T.S. Easton ein ganz anderes Bild auf das „typische“ Mädchenhobby, das man so nicht erwartet.

Ben Fletcher, 16 Jahre alt, ist eigentlich ein ängstlicher, unauffälliger Nerd, der im Grunde gerne zur Schule geht und lernt und sehr gerne liest. Zuhause schämt sich Ben gerade ziemlich fremd für seine Eltern und deren permanent zweideutigen Anspielungen in ihrer Unterhaltung. Sein Vater ist Mechaniker, ein großer Fußballfan und steht auf alles, was Männlichkeit ausmacht. Ben bemüht sich, Interesse vorzutäuschen, wenn er mit seinem Vater am Wochenende Wagen repariert. Doch Ben ist sich seiner zwei linken Hände bewusst, außerdem kann er sich weder für Autos noch für Fußball begeistern. Von daher ist es für ihn nicht leicht, mit seinem Vater erschöpfendes Gesprächsmaterial zu finden. Bens Mutter ist Bühnenzauberin und tingelt auf kleinen Bühnen für noch kleinere Gagen. Außerdem ist sie extrem unordentlich, womit sie bei Bens Vater in bester Gesellschaft ist. Für Ben ist dieses Chaos ein Problem, denn er hat gerne alles geordnet und möglichst unter Kontrolle. Eigentlich verstehen sich seine Eltern gut, aber wenn es zwischen den beiden heftig kracht, verschwindet der Vater für eine Weile, bis er sich wieder in seiner Mitte gefunden hat. Die sechsjährige Molly und Schwester von Ben vervollständigt die kleine, chaotisch-charismatische Familie.

Ben hat drei Freunde, Gex, Joz und Freddie, die für jeden unüberlegten und dummen Unsinn zu haben sind und vor kleinkriminellen Taten nicht scheuen. Ben steht oft genug zwischen zwei Stühlen, weil er einerseits die Freunden vor den Folgen ihrer Taten warnt und andererseits nicht immer den Spielverderber mit seinem oberlehrerhaften Gehabe markieren will. Das wird für ihn auch zum Verhängnis. Als am Schuljahresende eine Klassenkameradin eine Party schmeißt, zu der keiner von den Dreien eingeladen ist, aber genauso klar ist, dass sie dahin müssen, kommen Joz, Gex und Freddie auf die geniale Idee sich mit alkoholischem Mitbringsel Eintritt zu verschaffen. Doch dafür müssen sie erst mal an das Hochprozentige rankommen. Sie überlegen sich einen raffinierten Coup in einem Supermarkt, der natürlich schief geht und ausgerechnet Ben wird als einziger erwischt, als er auf der Flucht die alte Dame Mrs Frensham, die als Verkehrskadett diesen regelt, mit seinem Rad niedermäht.

Als Strafe zur Bewährung muss er ein Tagebuch führen, was für ihn keine wirkliche Bestrafung ist, da er das sowieso schon tut. Schwieriger ist, sich für einen der ausgesuchten Kurse zu entscheiden: Autoreparatur (mit seinem Vater), Stricken mit Jessica Swallow (die Lehrerin, in die Ben heimlich verliebt ist), Töpfern mit Naomi Hooper oder Microsoft Office für Einsteiger mit Frank Gavin. Einzig Jessica Swallow machte die Entscheidung klar, für welchen Kurs sich Ben entschied. In der ersten Stunde stellt Ben allerdings fest, dass es wohl offensichtlich eine Verwechslung gegeben hat, denn Mrs Hooper erteilt den Strickunterricht und Jessica Swallow leitet den Töpferkurs. Ausgerechnet auch noch Mrs Hooper, deren Tochter Megan ebenfalls Bens Herz höher schlagen lässt. Nachdem die ersten Hemmungen gefallen sind, merkt Ben, dass er beim Stricken eine wirklich gute Nadel zeigt. Er zeigt ein unglaubliches Talent, eine große Genauigkeit gepaart mit fixer Geschwindigkeit. Kurzum, Ben ist ein wahres Stricktalent.

Es dauert natürlich eine Weile, bis er sich das zugesteht und merkt, wie gut er beim Stricken abschalten kann. Ben ist hin- und hergerissen zwischen Freude und Glück über sein neu entdecktes Talent und der Angst, sich damit vor den Eltern und Freunden lächerlich zu machen und noch mehr von seiner angeblich nicht vorhandenen Männlichkeit zu verlieren. Ben hält sich selbst für übergeschnappt, als er die Feinheiten und Unterschiede der verschiedenen Wollsorten erfühlt und sich für besondere Stricknadel und ausgefallene Strickmuster begeistert.

Eine weitere Bewährungsauflage ist, sich um Mrs Frensham zu kümmern. Ausgerechnet die alte, mürrische Dame, die er mit dem Rad umgefahren hat. Nach einigen Startschwierigkeiten kommen die beiden sich im Laufe der Zeit näher und es zeigt sich, dass auch die alte Dame früher eine leidenschaftliche, gute Strickerin gewesen ist. Zumindest seiner Mutter gegenüber kann Ben sein Geheimnis nicht verstecken und natürlich weiß auch Megan von seinem Talent. Er entwickelt heimlich eigene Strickmuster und arbeitet sich von Mk2 über Must3er zu Must.e.r hoch.

Nachdem Ben als Sieger der Juniorklasse  in der Regionalentscheidung der Englischen Meisterschaft im Stricken hervorgeht, er umgehend Aufträge erhält, nachdem er seine Werke online zum Verkauf anbietet, vertritt er Hampshire in der Juniorklasse in der Nationalen Meisterschaft im Stricken in Olympia. Mittlerweile hat sich sein Maschentalent in der Schule herumgesprochen und ein ganzer Bus Freunde begleitet ihn zum Wettbewerb. Trotzdem ist Ben das alles unangenehm. Noch immer nicht hat er seinem Vater von seinem neuen Hobby und Leidenschaft erzählt, da er glaubt, dass er ihn dann überhaupt nicht mehr ernst nimmt. Außerdem gibt es da noch eine Clique in seiner Schule, die ihn drangsalieren und hänseln, wann immer es geht. Und was ist mit Megan, in die er verliebt ist und er das Gefühl hat, dass auch sie ihn nett findet und trotzdem irgendwie keine vernünftige Unterhaltung zustande bringen? Neben dem üblichen Lampenfieber vor so einem großen Wettbewerb zusätzliche Probleme, die Ben nicht gebrauchen kann.

Ben Fletcher erzählt aus seiner Sicht; man findet ihn auf Anhieb sympathisch und es gelingt ihm spielend, den Leser in seine Geschichte zu umgarnen. T.S. Easton räumt in einer urkomischen, hin und wieder auch durchaus albernen und temporeichen Komödie mit dem Rollenklischee auf, welche Hobbys Mädchen machen und niemals Jungs – und umgekehrt. Mit frechem, erfrischendem Wortwitz und mit überspitzten Charakteren räumt der Autor mit sicherem Blick für Feinheiten mit Vorurteilen auf. Es ist eine Story, die in erster Linie mit Unsinn und schrägen Verstrickungen unterhalten will, was ihr mit spritzigen Dialogen und einer temporeichen Handlung bestens gelingt. Und doch hat diese schräge, actionreiche Geschichte auch Tiefgang, der trotz Leichtigkeit nicht in Trivialität untergeht.

Aus einem ängstlichen Teenager mit leichtem Hang zum Nerd entwickelt sich ein langsam immer selbstbewusster werdender Ben, der durch das Stricken nicht nur Geduld lernt, sondern auch, dass manchmal ein wenig Unordnung durchaus gut und förderlich ist und dass man manchmal den Dingen freien Lauf lassen muss. Dabei muss er sich seinen Eignungen und Neigungen stellen und auch damit rechnen, dass er durchaus damit aneckt. Aber das ist eben das das Problem der anderen.

Sympathisch ist mir der Autor T.S. Easton, da er ebenso untalentiert gegenüber der handwerklichen Kunst des Strickens ist wie die Rezensentin. Auch er hat den Kampf mit Nadeln und Maschen wie ich bei Recherchearbeiten zu diesem Buch hoffnungslos verloren. Umso schöner und beachtlicher, dass ihm diese herrlich unterhaltsame Maschen-Geschichte gelungen ist, die ein humorvoller Beitrag zum Abbau von Vorurteilen und Aufhebung der weiblichen und männlichen Rollen-Klischees ist.

Eine herrlich unsinnige Geschichte mit Hintersinn für weibliche und vor allem männliche Leser jeden Alters, die Vorurteile mit Maschen-Charme beiseite schiebt und unterhaltsam einwickelt.

Wieland Freund und Andrea Wandel haben die Geschichte eins rechts, eins links, wunderbar leicht und stimmig übertragen.

Das Cover ist Geschmackssache, für mich ein wenig zu überladen und das Rad zu dominierend, aber schräg-chaotisch entspricht treffend den Inhalt.

Sabine Hoß

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