Leon Leyson
Erinnerungen von Leon Leyson mit Marilyn J. Harran und Elisabeth B. Leyson
Aus dem Amerikanischen von Mirjam Pressler
Fischer Taschenbuch, 22. Januar 2015
224 Seiten, € 8,99
ab 12 Jahren
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Deine Worte.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden Deine Taten.
Achte auf Deine Taten, denn sie werden Deine Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Jüdischer Talmud
Die Generation, die den Holocaust überlebt hat und darüber erzählen will, stirbt aus. Vergessen kann keiner von ihnen, was sie vor mehr als siebzig Jahren erlebt haben. Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis tut auch nach so langer Zeit unendlich weh und verblassen kaum.
Für unsere Kinder in der vierten Generation sind die Erfahrungen der jüdischen Überlebenden nicht mehr nachvollziehbar. Umso wichtiger sind Bücher, wie das vorliegende von Leon Leyson, der nur durch viel Glück und Oskar Schindler dem sicheren Tod entkam und erst in den Neunzigern die Kraft hatte, mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.
In einer ruhigen Sprache erzählt Leon Leyson, wie er 1929 als Leib Lejzon min Narewka, einem kleinen Bauerndorf im Nordosten Polens geboren wurde. Seine Familie bestand aus den hart arbeitenden Eltern und vier weiteren Geschwister. Der Vater arbeitete als Maschinenschlosser in einer Fabrik in Krakau, wohin er seine Familie nach einigen Jahre holte und hoffte, seinen Kindern und seiner Frau ein besseres Leben bieten zu können. Während die Kinder das Stadtleben aufregend und interessant fanden, lebte sich die Mutter nicht richtig ein und hatte Heimweh nach ihrem Dorf, Verwandten und Freunden. Obwohl die Eltern die Berichte hörten, dass polnische Juden in furchtbaren Lagern deportiert und Zeugen der Kristallnacht wurden, hofften sie, dass sich die Zustände bald wieder legen würden. Mit dem Spruch „Wenn das das Schlimmste ist“, versuchten sie sich Mut zu machen und zu beruhigen. Ob sie das selber wirklich glaubten, das fragt sich Leon Leyson bis heute. Doch ihm ist klar, dass sie damals keine wirklichen Ausweg hatten. Wohin hätten sie gehen und was hätten sie tun können?
Als eines Abends die Gestapo in die Wohnung stürmten und den Vater brutal schlugen und mitnahmen, wurde Leon klar, dass er nicht untätig bleiben und darauf warten konnte, dass die Deutschen besiegt werden würden. Gemeinsam mit seinem Bruder David suchte er in ganz Krakau nach seinem Vater, doch ohne jede Spur. Als er, wie andere jüdische Kinder, nicht mehr in die Schule darf, verdiente er, wie sein Bruder David, mit Gelegenheitsjobs ein wenig Geld, um mit der wenigen Bezahlung die Familie zu unterstützen. Der Druck auf die jüdischen Bewohner wurde immer schärfer und die Kinder, mit denen Leon früher gespielt hatte, wendeten sich plötzlich ab.
Als der Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, beschloss er, auf seine Weise den Widerstand gegen die Nazis und arbeitete heimlich in einer Glasfabrik. Eines Tages schickte man ihn zu der Emailfabrik, in der ein Safe geöffnet werden sollte. Über das handwerkliche Geschick erstaunt, bot der Safebesitzer und Nazi Leons Vater eine Stelle an. Eine Stelle, die ihm und einem Teil seiner Familie das Leben rettete, denn der Safe- und Fabrikbesitzer war Oskar Schindler.
Es sind erbarmungslose, grausame Erlebnisse, die der kleine Leon bei den Deportationen und in den Ghettos erlebte. Zwei seiner Brüder verlor er dabei und sah sie nie mehr wieder. Die Hölle auf Erden wurde Plaszów unter dem Kommandant Amon Göth, denn hier strandete die zerrissene Familie und Leon war zunächst auf sich alleine gestellt.
Gleichwohl Leon noch klein war, so mutig stellte er sich gefährlichen Situationen und es gelang ihm herauszufinden, wo Schindlers Juden in dem Lager eingeteilt wurden. Hier fand er auch endlich seinen Vater und Bruder David wieder und setzte sich unter Einsatz seines eigenen Lebens dafür ein, dass die Mutter bei ihnen blieb. Ende 1943 ließ Oskar Schindler ein Nebenlager bauen, um den vier Kilometer langen Fußweg zwischen dem Lager Plaszów und seiner Emalia-Fabrik einzusparen. Leon, seine Eltern und sein Bruder gehörten zu den Juden, die auf der Liste für diese neue Arbeitsstätte standen. Oskar Schindler ging oft die Arbeitsschichten besuchen. Dabei hielt er hier und da Gespräche mit den Menschen und beobachtete auch Leon bei seiner Arbeit. Der ist so klein, dass er auf einer umgedrehten Holzkiste stehen musste, um die Maschinen überhaupt bedienen zu können.
Das Konzentrationslager Groß-Rosen/KZ-Außenlager Brünnlitz ist die letzte Station, die Leon, seine Eltern, sein Bruder David und seine Schwester Pesza über sich ergehen lassen mussten und wiederum auch mit Hilfe von Oskar Schindler unter Qualen und Entbehrungen überlebten.
Im Mai 1949, nach fast drei Jahren im Lager für „Displaced Persons“, kam für die Familie die Zusage, dass der Antrag auf Einwanderung in die USA angenommen worden war. Mit 19 Jahren fing Leon ein neues Leben an und ließ die Vergangenheit hinter sich. Doch er stellte fest, dass diese Erinnerungen ihn ein Leben lang begleiteten. Leon Leyson wurde Lehrer an der Huntington Park High School, an der er neununddreißig Jahre unterrichtete.
Der Film „Schindlers Liste“ änderte sein Leben entscheidend. Durch ihn überwand er den bis dahin harten Widerstand, über seine Erlebnisse zu sprechen. Obwohl er anfangs noch sehr zögerlich war, häuften sich die Interviewanfragen, die Leon Leyson auf Seriösität vorher genau überprüfte. In den letzten Jahren bis zu seinem Tod hielt er oft Vorträge, die spontan waren, ohne Script oder Notizen. Obwohl viele Jahre nach dem Krieg vergangen sind und Leyson mittlerweile leidenschaftlicher Vater und Opa ist, schmerzen die Erinnerungen an all das erlebte unermessliche Leid, an den Verlust seiner Familienmitglieder heute genauso wie damals.
Leon Leyson starb am 12. Januar 2013. Er erlebte noch die Manuskriptbetreuung, nicht mehr aber die Zusage des Verlages und die Veröffentlichung.
Über seine persönlichen und grausamen Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges als Mensch jüdischen Glaubens erzählte er ohne Anklage, ohne Schuldzuweisung, dafür differenziert und kritisch hinterfragend.
Den eingangs zitierten Spruch aus dem jüdischen Talmud hat Leon Leyson gelebt – unauffällig, dem Leben und Menschen, egal welcher Herkunft, mit unerschütterlichen Liebe und Respekt zugewandt, trotz seiner furchtbaren Erlebnisse – was uns allen ein Beispiel sein sollte.
Mirjam Pressler hat diese wertvolle Erinnerung mit feinfühliger Stimme und ohne Pathos eindrucksvoll übersetzt.
Sabine Hoß
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