Sommer unter schwarzen Flügeln

Sommer unter schwarzen Flügeln KLEIN

Peer Martin

Oetinger, 20. Februar 2015

496 Seiten, € 19,99

ab 16 Jahre

 

 

Deutschland, irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. In einem Asylbewerberheim wohnt die 17 Jahre alte Nuri, die mit ihrer Familie aus Syrien geflüchtet ist. Ein paar Straßen weiter wohnt Calvin, knapp 18 Jahre, in einem Block mit Sozialwohnungen. Er besucht die Berufsschule, ohne wirklich zu wissen, was er eigentlich werden will. Seine einzige Bestätigung erfährt er als Mitglied einer rechtsradikalen Jugendgang, mit der er die meiste Zeit verbringt und die ein Auge auf das Flüchtlingsheim geworfen hat.

Frau Silbermann, eine feine ältere Dame über Achtzig, nimmt sich der verwahrlosten Kinder aus dem Sozialblock an und unterrichtet sie in Lesen und Schreiben. Da sie über zwanzig Jahre aus dem Arabischen übersetzt hat, unterstützt sie auch die Flüchtlinge beim Erlernen der deutschen Sprache. Hier trifft Nuri auf Calvin, als er seine beiden jüngeren Halbbrüder Benji und Tom abholen will. Als Calvin verbotenerweise auf einem  baufälligen Balkon raucht, rettet ausgerechnet Nuri ihn aus einer misslichen Lage. Als Calvin erkennt, wer ihm geholfen hat, ist er gleichermaßen entsetzt wie auch fasziniert von Nuri und ihrer Ausstrahlungskraft, Schönheit. Als er mit seinen Brüdern fluchtartig den Ort verlassen will, beginnt Nuri unvermittelt an zu erzählen – und Frau Silbermann übersetzt, obwohl sie sich zunächst dagegen innerlich wehrt. Sie ist davon überzeugt, dass Calvin weder verstehen will noch kann, was Nuri durchgemacht hat und was sie ihm mitteilen will. Frau Silbermann ist Jüdin und hat nur mit viel Glück den Holocaust überlebt. Dennoch lässt sie sich von Nuris wunderbarer, fesselnder Erzählkunst verzaubern und übersetzt für sie. Obwohl sich Calvin heftig dagegen wehrt verliebt er sich in Nuri und sie in ihn. Für beide beginnt eine schwierige Zeit voller Angst, Zweifel und Hinterfragen.

Calvin steht zwischen zwei Stühlen: Auf der einen Seite soll er als neu einberufener Führer die Rechtsradikale Jugendgang als Bürgerwehr zum „Schutz“ vor Flüchtlingen leiten und einen Anschlag auf das Asylbewerberheim planen. Auf der anderen Seite taucht er immer tiefer in die Kultur, Geschichte und politische Entwicklung von Nuris Leben und ihrem Land ein und muss aufpassen, dass seine Beziehung zu Nuri nicht entdeckt wird.  Calvin lernt sogar heimlich Arabisch, was für ihn nur schwer erklärbar wird, als seine rechtsradikalen Freunde das Wörterbuch bei ihm finden. Irgendwann wird Calvin klar, dass es nur eine Zukunft für ihn und Nuri gibt, wenn er seine Gang und seine Vergangenheit verlässt. Doch so einfach entkommt er dem nicht, denn die alten „Freunde“ lassen ihn nicht gehen…

Es gibt zur Zeit einige Jugendbücher, die sich mit sozialen,  gesellschaftlichen Konflikten vorurteilsbelasteter Feindlichkeit und Fremdenhass gegenüber Ausländern allgemein und Asylsuchenden insbesondere  auseinandersetzen.

Peer Martin hat hier eine ganz besonders kompakte und vielschichtige Geschichte geschrieben, die in ihrer beeindruckender Intensität nur schwer wiederzugeben ist.

In einer ganz speziellen Erzählweise aus abwechselnden Erzählperspektiven und unterschiedlichen Zeitebenen, die Rückblenden, Vorausdeutungen und Gegenwart einbinden, legt der Autor raffiniert Handlungsschlingen zusammen, die sich nicht verheddern aber stringent einen hohen Spannungsbogen aufbauen.

Nuri erzählt in ihren Erinnerungen von den letzten vier Jahre in Syrien, wie sie von Ort zu Ort flüchten müssen, bevor sie letztendlich ihre Heimat verlassen müssen, um ihr Leben zu schützen. Die brutalen und grausamen Folgen der politischen Entwicklungen in diesem Land und die brutalen Foltermethoden, die Nuri und ihre Familie während ihrer Flucht erleben, wird gnadenlos beschrieben. Von daher ist das Lesealter ab 16 Jahren durchaus empfehlenswert.

Nuris Vater hat in Deutschland studiert mit dem Vorhaben, in seiner Heimat Wissen weiterzugeben. Nun muss er feststellen, dass sein Traum zerstört ist, wie seine einst wunderschöne Heimat. Nuri sieht in ihrer Vorstellung schwarze Flügel, die sich mit  Gewalt und Bedrohung über bestimmte Szenen legen. In ihren Erzählungen, die für Nuri selber eine Art Vergangenheitsbewältigung und Therapie darstellen, beschreibt sie mit intensiven Bildern ein farbenprächtiges, wunderbares Syrien mit all seinen Facetten. Dazu gehören die Unterschiede und Konflikte der religiösen Gruppen wie  den Alawiten, zu der Nuris Familie gehört wie auch den Sunniten, zu der Yassir, ein Freund von Nuri, gehört.

Die Tatsache, dass Calvin und seine rechtsradikale Gruppe in einer sozialschwachen Hartz IV-Siedlung in Mecklenburg-Vorpommern eingebettet ist, mag einerseits Stereotyp anmuten, andererseits ist es ebenso Tatsache. Der Autor zeigt auch hier schonungslos ein soziales Abrutschen unserer Gesellschaft wie die brutalen Mutproben und Zeichen der Zusammengehörigkeit innerhalb der rechtsradikalen Jugendgang. Einer Bewegung, die so verbunden ist, dass ein Ablösung unmöglich scheint, brutale „Hausbesuche“ der Mitglieder beweisen das immer wieder.

Die Handlung könnte in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit und den verschiedenen Wendungen den roten Faden verlieren, was Peer Martin aber klug vermeidet. Trotzdem ist es eine Geschichte, die sich wie ihre Hauptprotagonisten stringent entwickelt und verändert. Konsequenterweise gibt es kein Happyend, der Schluss bleibt offen.

Mit noch unbestimmtem Erscheinungstermin kündigt Peer Martin eine Fortsetzung mit dem Titel „Winter so weit“ an.

Eine Liebesgeschichte im „Romeo und Julia“-Gewand, die mutig, realistisch und sehr bewegend die politische Entwicklung und Situation in Syrien in Kontext einer rechtsradikalen Jugendbande und deutscher Gesellschaftskritik setzt. In einer klaren aber auch durchaus poetischen Sprache werden zwei politische und gesellschaftliche Porträts gegenübergestellt, die unterschiedlicher nicht  sein und doch friedlich miteinander leben könnten.

Auch wenn es für den Unterricht für manchen Schüler (und Lehrer) als eine zu seitenstarke Lektüre erscheint, sollte man darüber hinwegsehen, denn die Geschichte umfasst auf brisante Weise aktuelle politische und gesellschaftliche Konflikte. Darüber hinaus stellt der Verlag kostenfrei gutes Unterrichtsmaterial per Download ab Klasse 10 zur Verfügung.

Auch wenn die rechtsradikale Jugendgang in Mecklenburg-Vorpommern agiert, ist es Tatsache, dass diese beschämende Gesinnung überall in Deutschland und nicht nur diffus im Untergrund agiert. Peer Martin hat ein polarisierendes Buch geschrieben, das aufrüttelt, die Augen offen zu halten und sich laut gegen jede Form und Anschein von Neonazismus zu wehren.

Obwohl am Ende eines jeden Kapitels zwei Stichworte genannt werden, die zur Internetrecherche animieren sollen, wäre ein ein Glossar am Ende des Buches wünschenswert, das die zahlreichen arabischen Wörter übersetzt zusammenfasst, wie auch Begriffe und deren Bedeutungen wie Rune, Swastika, Schwarze Sonne erklärt.

Das Cover ist passt mit seinem ausgefallenen transparenten und ergänzend bedruckten Titel und dem verwischten, auffälligen roten Strichen perfekt.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit dem Autor findet Ihr hier:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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