Vielleicht dürfen wir bleiben

Vielleicht dürfen wir bleiben KLEIN

Ingeborg Kringeland Hald

Aus dem Norwegischen von Maike Dörries

Carlsen, Januar 2015

96 Seiten, € 9,99

ab 14 Jahren

 

 

Ein kleines schmales Buch sollte nie über die Intensität täuschen, die von seinem Inhalt ausgehen kann. „Vielleicht dürfen wir bleiben“ ist so ein Buch. In zwei parallel laufenden und sich abwechselnden Handlungsebenen aus der Sicht von Albin geht es um eine nicht enden wollende Flucht eines mittlerweile elfjährigen Jungen. In Rückblenden erzählt Albin, wie er als Sechsjähriger mit seinen kleinen Zwillingsschwestern und der Mutter zusehen muss, wie der Vater in der heimischen Küche von Soldaten grundlos erschossen wird. Die Mutter packt ihre Kinder, setzt die Kleinen in eine Schubkarre und flieht mit ihnen unter grausamen Umständen durch Bosnien im Jugoslawien-Krieg. Sie stranden in Norwegen, wo sie seit einigen Jahren in einem Asylantenheim leben. Heimatlos kommen sie nirgendwo an. Albin hat das Erlebte nicht verarbeitet und versucht traumatisiert in der Gegenwart Halt zu finden. Als der Familie die Ausweisung droht, setzt sich Albin in einen Bus und haut ab. In der zweiten Erzählperspektive geht es um diese Flucht in der Gegenwart.

Albin wird von einem kleinen Mädchen im Bus angesprochen, die sich darüber wundert, dass Tannenzapfen an seiner Mütze hängen und ihn fragt, warum er sich als Weihnachtsmann verkleidet hat. Da Albin mit Misstrauen und Angst anderen Menschen begegnet, schweigt er. Das kleine Mädchen wiederum wird sofort von ihrer älteren Schwester ermahnt, dass sie doch nicht mit fremden Menschen sprechen darf. Die Geschwister sind auf dem Weg zu ihren Großeltern, wo sie die Ferien verbringen. Auch bei den Mädchen gibt es Misstrauen, Angst vor Unbekanntem und Fremden, obwohl sie keinen Krieg erlebt haben. Diese, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Lebenssituationen entstandene Verbindung, hat die Autorin tiefsinnig und feinfühlig zusammengefügt.

Der Junge beobachtet, wie die Mädchen von den Großeltern mit einem Auto abgeholt werden und versteckt sich im Kofferraum. Als blinder Passagier fährt er mit ihnen zum Ferienhaus im Wald. Hier flieht er weiter, hetzt durch den Wald, immer mit der Angst entdeckt zu werden und doch bleibt er in Sichtweite der Mädchen und Großeltern, in der Hoffnung, Essbares und einen warmen Schlafplatz zu finden. Der Großvater versteckt Rosinenbrötchen und Kakao und es bleibt offen, ob er das in einem Suchspiel für seine Enkel oder für Albin tut, den er womöglich bemerkt hat. Die Mädchen entdecken Albin nach einer ersten Begegnung im Wald in einer kleinen Hütte, in der er Unterschlupf gefunden hat und doch scheint es, als hätten sie ihn bereits vor ihrer ersten Begegnung wahrgenommen. Ob das so ist, bleibt offen und lässt dem Leser Raum zum Nachdenken.

Ingeborg Kringeland Hald hat mit ihrem Debüt in der hervorragenden Übersetzung von Maike Dörries ein vielschichtiges Buch aus der Sicht eines traumatisierten Jungen über Krieg und Flucht geschrieben, und verbindet sensibel Misstrauen aus unterschiedlichen Lebenssituationen. Das Buch ist alles andere als leichte Kost, zumal wenn Albin erbarmungslos erzählt, wie er das Erschießen seines Vaters erlebt hat oder während der Flucht ein Junge von einem Soldaten erschossen wird, weil er aus Hunger laut jammert. Das ist selbst für Erwachsene nicht leicht zu verkraften aber es spiegelt die Realität ohne Schleifchen wieder, mit der Kinder in einem Krieg fertig werden müssen, ohne es vielleicht jemals wirklich verarbeiten zu können.

Ein beeindruckendes, bewegendes Buch, dass diese grausame Realität nachvollziehbar und gleichzeitig dankbar macht, sie nicht zu erleben. Eine kleine Perle der Literatur in diesem Frühjahr/Sommer.

Das Cover hätte treffender nicht gewählt werden können. Perfekt.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

 

 

 

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