Fatma Aydemir
Hanser Verlag, 30. Januar 2017
272 Seiten, € 20
ab 16 Jahre
Hazal, gerade 18 Jahre alt geworden, lebt mit ihrem etwas jüngeren Bruder in Berlin-Wedding. Obwohl sie in Berlin geboren und aufgewachsen ist, fühlt sie sich in Deutschland als Außenseiterin. Ihre Eltern sind das Abziehbild traditioneller konservativen Deutsch-Türken, die in einem eingeengten, ständig sich misstrauenden Verhältnis miteinander lebt. Der Vater fährt seit Jahren Taxi und verdient damit den kargen Familienunterhalt, die Mutter hält daheim alles schön ordentlich. Eine Liebesheirat war ihre Ehe nicht, daher schluckt die Mutter Antidepressiva, um ihr Leben erträglicher zu machen. In der Schule hat Hazal keinen guten Abschluss gemacht und findet daher keine Ausbildungsstelle. Auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme hat sie keinen Bock, weil das ja eh nichts bringt und ihr beruflicher Traum, Ärztin zu werden, ist so fern, wie eine Reise auf den Mond. Hazal fühlt sich als Opfer vieler Ungerechtigkeiten, an der ihre „Kanakenfresse“ schuld ist. Doch sie will kein Opfer sein, das ist das einzige, was sie weiß und wofür sie immer wieder provokant Stellung nimmt. Ihr Halt sind ihre Freundinnen und ihre liebste Beschäftigung ist es, mit ihnen abzuhängen und zu kiffen, sofern das Geld reicht. Ihr fünfzehnjähriger Bruder Onur beschafft sich mit kriminellen Geschäften Geld, von dem er hin und wieder Hazal etwas abgibt. Einen festen Freund hat Hazal nicht, nur die facebook-Bekanntschaft mit dem in Istanbul lebenden Mehmet, den sie für die große Liebe hält. Der einzige Rückhalt in ihrer Familie ist Tante Semra, die studiert hat, unabhängig und damit der Familie ein Dorn im Auge ist.
Als Hazal mit ihren beiden Freundinnen ihren 18. Geburtstag in einem Club feiern wollen und dort nicht hinein gelassen werden, ziehen die Mädchen betrunken, wütend und frustriert ab. An einer U-Bahn-Station werden sie von einem ebenfalls betrunkenen Studenten provokant angemacht, was das Fass für das Trio zum Überlaufen bringt. Sie schlagen auf den jungen Mann ein, bis er blutet und stürzt. Die drei fliehen, ohne jede weitere Hilfe und Wissen, ob er überlebt. Hazal flieht nach Istanbul, im Glauben, bei ihrer Internetbekanntschaft und Liebe, Halt und Sicherheit zu finden. Doch sie merkt schnell, dass auch Mehmet ihr das nicht bieten kann. Im Gegenteil, auch er ist drogenabhängig, ohne Perspektive und als junger Mann schon vom Leben enttäuscht. Tante Semra fliegt von Deutschland zu ihr, um ihr zu helfen und sie wieder mitzunehmen, doch sie scheitert bei diesem engagierten und couragierten Versuch. Doch welche Zukunft hat Hazal?
Fatma Aydemir lässt ihre Protagonistin in einem harten, aggressiven und rohen Jugendjargon sprechen. Doch genau das lässt Hazal absolut authentisch auf den Leser wirken. Die Autorin hat kein billiges Klischee einer jugendlichen Deutsch-Türkin mit klassischem Elternhaus aufgezeichnet, sondern mit viel Sensibilität und Empathie die zerrissene Welt der jungen Hazal aufgezeichnet, die weder in Deutschland noch in der Türkei ein Ankommen oder Heimat, geschweige denn irgendwo ein Zuhause fühlt. Tiefgründig lässt die Autorin ihre Figur rebellieren, die sich ständig zwischen brutaler Wut und phlegmatischer Stumpfsinnigkeit reibt. Hazal will kein Opfer werden, doch sie schafft es auch nicht, auf einen guten Weg zu kommen. Zu groß sind die vielen Enttäuschungen, die die Hoffnungen überwiegen.
Es ist sicher keine sprachlich literarische Perle, die die in Karlsruhe geborene und Anfang 30-jährige Fatma Aydemir mit ihrem Debüt präsentiert. Doch die bei der „taz“ arbeitenden Redakteurin zeigt eine vielschichtige Hazal, die man so gerne liebevoll in den Arm nehmen und gleichzeitig heftig durchschütteln würde, um ihr einen Weg zu zeigen. Doch man bleibt, wie die Protagonistin, am Ende allein und alles bleibt offen.
„Ellbogen“ – sprachlich ein manchmal anstrengendes Buch, doch mit einer Protagonistin und Handlung, die nachdenklich macht und nachhallt. Auf jeden Fall ein besonderes Buch, das sich nicht billigen Klischees deutsch-türkischen Problemen beugt, sondern glaubwürdig und mit Tiefgang exemplarisch die zerrissene Welt von Hazal beschreibt.
Das Cover ist sicher eine Geschmackssache. Mir hätte das Foto einer jungen Türkin besser gefallen als ein blonder Männer(?)schopf…
Sabine Hoß
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