Mittagsstunde

Dörte Hansen

Penguin, Oktober 2018

320 Seiten, Euro 22,00

 

 

 

 

Mit ihrem Debüt „Altes Land“ hat Dörte Hansen ihr großartiges erzählerisches Talent gezeigt. Umso neugieriger und erwartungsvoller war ich auf ihren zweiten Roman. In „Mittagsstunde“ entführt sie den Leser mit ihrer Hauptfigur Ingwer Feddersen in das kleine fiktive nordfriesische Geestdorf Brinkebüll. Der promovierte Archäloge, der in Kiel an der Uni als Hochschullehrer doziert, hat sich ein Sabbatjahr genommen, um sich um seine hochbetagten und pflegebedürftigen Großeltern zu kümmern. Ingwer flüchtet vor seinem Leben, das voller Fragen und seit über zwanzig Jahren in einer Dreier-Wohngemeinschaft ohne wirkliche Perspektive ist. Er möchte mit seiner Zeit ein wenig seinen Großeltern zurückgeben, die ihm alle Chancen ermöglicht haben, das Abitur zu machen, zu studieren und nicht, wie vom Großvater erwartet, den großen Dorfgasthof zu übernehmen. Mit dieser Entscheidung hatte Ingwer damals fast mit Sönke Feddersen, seinem Großvater gebrochen, mittlerweile haben sie sich fast versöhnt. Sönkes augenblicklicher Lebensantrieb ist die Freude auf die Feier seiner Gnadenhochzeit mit seiner an Demenz erkrankten Ella.

In zwei abwechselnden Erzählperspektiven erzählt Dörte Hansen einmal in der Gegenwart und Mitte der sechziger Jahren von der Entwicklung des kleinen Dorfes Brinkebüll und seinen Einwohnern. Die Flurbereinigung säbelte und hobelte nicht nur durch die Natur, sondern auch durch das Leben und Traditionen  der Landwirte, die teilweise nicht dem Tempo der Veränderungen hinterher gekommen sind. Der Bücherbus, der unglückseligerweise ausgerechnet in der heiligen Mittagsstunde im Brinkebüll Station machte, ist eine der Entwicklungen, die nicht nur für die bildungshungrige Gönke Boysen ein erster Schritt aus dem Dorf heraus ist.

Der Autorin gelingen in einer geschliffenen Sprache klare und manchmal bis aufs Mark offen legende und trotzdem warmherzig bleibende Charakterisierungen der einzelnen Dorfbewohner, so dass man manchmal das Gefühl hat, mitten unter ihnen zu leben und gleichzeitig das dringende Bedürfnis verspürt, aus dieser Gemeinschaft so schnell wie möglich auszubrechen. Da gibt es Sönke und Ella, die den Dorfgasthof betreiben und „nebenher“ Landwirte sind – und sich schon lange nichts mehr zu sagen haben. Ihr Dorfgasthof ist das Zentrum, der Dreh- und Angelpunkt des Dorfes; alle Feiern von der Taufe bis zur Beerdigung werden in dem Festsaal gefeiert und manche werden nie bezahlt. Die Tochter Marret ist ein wenig wunderlich und wenn sie nicht Schlager singend und tanzend im Dorfgasthof hilft, klappert sie in Holzlatschen durchs Dorf und verkündet von Tür zu Tür, dass der „Ünnergang“ bevorsteht. Keiner konnte sich so schnell und gut verstecken und eine Weile von der Bildfläche verschwinden, wie Marret Ünnergang. Da gibt es den kauzig-knorrigen Dorflehrer Steensen, der versucht, die Intelligenz und Klugheit der Bauernkinder wie die Spreu vom Weizen zu trennen und nur wenige erhalten von ihm die Empfehlung für die höhere Schule in Husum. Jede der knochig-kauzigen Figuren ist mit psychologischer Tiefe ausgefeilt und nichts bleibt oberflächlich.

Fünfzig Jahre lang erlebt man in dem Roman die einschneiden landschaftlichen Veränderungen des kleinen Dorfes und die damit einher gehenden Entwicklungen der Menschen, die dort leben, die teilweise diesen Veränderungen nur schwer bis gar nicht nachkommen. Genauso stark, wie die Autorin ihre Figuren darstellt, beschreibt sie mit lebendigen Bildern die nordfriesische Natur um Brinkesbüll in allen Jahreszeiten. Unaufdringlich aber regelmäßig liest man Sätze, Redewendungen in Plattdüütsch, die den Charakter, die Eigen- und Einzigartigkeit der Menschen und des Landstrichs unterstreichen. Ist es kitschig, wenn ich „mit Charme“ nachsetze? Ist es ein sentimentaler, klischeebelasteter Heimatroman? Nein, ganz eindeutig nein! Dörte Hansen gelingt es mit ihrem ganz eigenem Humor und klarer Lakonie genau das zu vermeiden und trotzdem eine stille Melancholie über die klug aufgebaute Geschichte zu legen.

„Mittagsstunde“ ist kein Heimatroman, vielmehr eine klare, nüchterne aber auch sehr warmherzige Aufarbeitung von Erinnerungen einer Kindheit und Jugend als Kapuzenkind in einem kleinen nordfriesischen Dorf, die von Geborgenheit, Traditionen, aber auch von Verlogenheit, Verschwiegenen, Unausgesprochenen und dem gelungenen Drang nach Ausbruch erzählt. Nachhallend und einzigartig.

Das Cover schreckt auf den ersten Blick eher ab, oder um es milder zu sagen, es lenkt nicht gerade den Focus zum Buch. Aber – es ist wie die Geschichte selber außer- und ungewöhnlich und letztlich passt es dann.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

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