Melitta Breznik
Luchterhand, Mai 2020
160 Seiten, € 13,99
Als ich mir dieses Buch beim Verlag zur Rezension bestellte, habe ich einen Moment überlegt, warum ich ein Buch lesen möchte, in dem eine mir völlig unbekannte Frau die letzten Wochen und Tage des Sterbeprozesses ihrer Mutter beschreibt, die mir ebenfalls nicht bekannt war.
Und doch hat mich etwas in dem Klappentext berührt, was sicher mehr als ein unzureichend beschreibendes Gefühl ist, als ein klares Argument dafür. Mit Mitte fünfzig musste sich bestimmt schon jeder von einem lieben nahestehenden Menschen, sei es Elternteil oder Freund/Freundin verabschieden und hat die verschiedenen Phasen des Trauerns durchlebt, auch wenn sie durchaus unterschiedlich bei jedem verlaufen können. Doch bis heute ist der Tod und der Sterbeprozess eine sehr private Angelegenheit, mit der sich der begleitende Angehörige oft alleine und überfordert fühlt. Es wird wenig bis gar nicht mit Dritten darüber gesprochen. Selbst wenn es ehrliche Anteilnahme und Fragen des anderen gibt, traut man sich kaum, diese zu stellen, denn meist wird mit einem Ausweichen geantwortet.
So war es auch schlicht meine Neugier, wie jemand anders mit dem begleitenden Sterbeprozess umgeht, gleichwohl, dass jede Begleitung individuell ist.
Die Österreicherin Melitta Breznik, Jahrgang 1961, war Praktische Ärztin, bevor sie sich als Fachärztin für die Fachrichtung Psychatrie und Psychotherapie spezialisierte. Seit 1995 hat sie bei Luchterhand einige Erzählungen veröffentlicht, darunter „Nachtdienst“, „Nordlicht“ und „Der Sommer hat lange auf sich warten lassen“.
In ihrem neuen Buch beschreibt sie den relativ kurzen Sterbeprozess ihrer Mutter, bei der im Herbst Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird und sie das Weihnachtsfest nicht mehr erleben wird. Der Ärztin, für die das Krankenhaus ein alltäglicher Ort ist, fühlt nach der mitgeteilten Diagnose „als Betroffene Scham, wenn man den Ablauf der Routine des Heilens mit den Belangen des Todes stört.“ (S. 27) Von heute auf morgen nimmt sie sich die Zeit, ihre Mutter in ihren letzten Lebenswochen zu begleiten und gibt ihr die Möglichkeit mit ihrem ärztlichen Fachwissen in ihrer Wohnung zu sterben. Melitta Breznik erzählt in einer ruhigen, klugen Sprache von ihren eigenen und gemeinsam mit ihrer Mutter geteilten Erinnerungen aus der Kindheit, Jugend und dem Erwachsenwerden. Eine Familie, die von einem querulanten Quartalssäufer als Ehemann und Vater belastet wurde und in der die Mutter fester Halt und die Konstanz war, dabei sich selber nie etwas gönnte. Mit den Gesprächen kommen aber auch Spannungen zwischen Mutter und Tochter wieder hoch, die bis heute nicht ganz ausgeräumt wurden und eine Versöhnung nicht gelungen ist, wie die von der Mutter befohlenen Abtreibung bei der sehr jungen Melitta, damit diese sich nicht ihre Zukunft verbaut.
Mit viel Liebe beschreibt die Autorin, wie viel Kraft sie die Sterbebegleitung kostet, wie oft sie am Ende dieser scheint, obwohl sie von ihrem Bruder und erst sehr spät von einer professionellen Betreuerin unterstützt wird.
Es ist ein privates, intimes Kammerspiel, das den Leser in eine breit aufgefächerte offene und ehrliche Gefühlswelt der Tochter eintauchen lässt, die zwischen warmherziger Aufopferung bis zur völligen Überforderung den Sterbeprozess ihrer Mutter begleitet. Sie sucht Verbindendes zu ihrer dahinschwindenden Mutter, die von Tag zu Tag immer mehr zu einer körperlichen Hülle zerfällt und findet es in kleinen Details und leisen, klugen Sätzen: „Der Kreis der Wahrnehmung wird kleiner, das Sehen wird genauer, die Welt, die sich hinter den Beobachtungen auftut, wird tiefer und ist nicht mehr zu vergleichen mit der, die einem entgegentritt, wenn man im normalen Getriebe des alltäglichen Arbeitens und Erledigens steckt. Es ist ein Vorteil des Älterwerdens, wenn man sich mit dem Naheliegenden anfreundet, nicht damit hadert, sondern die Weite der Welt im Kleinen findet.“ (S. 69)
Melitta Breznik beschönigt nichts in ihrer Erzählung, es gibt über den Tod der Mutter hinaus Dinge, die auch in den letzten Wochen nicht ausgesprochen werden. Dabei hebt sie leise hervor, dass es zwei Arten von Zeit gibt: Die Lebenszeit und die des Sterbeprozesses, die ein unvorhersehbares, nicht planbares Tempo mit sich bringt.
Der Autorin ist eine persönliche, stille Erzählung gelungen, in der sie ihre Mutter friedlich und fast versöhnlich dem Tod übergeben kann. Nicht nur der Sterbende ist am Lebensende alleine mit sich, auch der Begleitende oder die Begleitenden bleiben mit ihrer Traurigkeit alleine, was letztlich wieder tröstet und verbindet.
Sabine Wagner