KEIN Pausenbrot, KEINE Kindheit, KEINE Chance – Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss

Jeremias Thiel

Mitautorin Ulrike Strerath-Bolz

Piper Verlag, März 2020

224 Seiten, € 16,00

 

 

 

Jeremias Thiel wurde 2018 durch seinen beeindruckenden Auftritt in der Fernsehsendung „Maischberger“ mit dem Thema „Die unfaire Republik“ um die sogenannte „neue Armut“ bekannt. Dort war er neben Sahra Wagenknecht, dem Self-Made-Millionär Ralf Dümmel sowie den Wirtschaftsjournalisten Anja Kohl und Rainer Hank als Betroffener eingeladen. Schon vor dieser Sendung hatte Jeremias Thiel als SOS-Botschafter beim „Zeit“-Wirtschaftsforum mitgewirkt und Journalist*innen der „Zeit“ dazu bewegt, über die Kinderarmut in Deutschland zu schreiben.

Im Gegensatz zu den Politikern und Journalist*innen, die „nur“ darüber reden und in ihrem Tun das Schicksal der benachteiligten Kinder und Jugendlichen beeinflussen, weiß Jeremias ganz genau, wie es sich anfühlt, in Armut aufzuwachsen.

Seine Eltern sind psychisch krank und leben von Hartz IV ohne Perspektive mit Jeremias und seinem Zwillingsbruder im Brennpunkt „Kotten“ in Kaiserslautern. Mit seinen elf Jahren übernimmt Jeremias die alltäglichen Dinge, wie Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, seinen Bruder zur Schule zu motivieren, Formulare ausfüllen und vieles mehr. Er versucht alleine das Familienleben irgendwie zusammenzuhalten, was eigentlich in der Verantwortung der Erwachsenen liegt. Als er 2012 mit 11 Jahren an den Punkt der völligen Überforderung und Verzweiflung kommt und vorausschauend ahnt, dass er mit diesem chaotischen und wahnsinnigen Familienleben den Zugang zum Gymnasium trotz hervorragender Noten verwehrt bleibt, wendet er sich mit seinem Bruder ans Jugendamt. Dort hat er Glück, dass man sich sofort um die beiden kümmert und zunächst kommen sie gemeinsam in eine Wohngruppe, später wechselt Jeremias in ein SOS-Jugendhaus, das zu einem SOS-Kinderdorf gehört. Die Familie war dem Jugendamt Kaiserslautern schon durch die Kontaktaufnahme von Jeremias Grundschullehrerin bekannt, so dass er bereits zu dieser Zeit nach der Schule nicht direkt nach Hause, sondern in eine Tagesgruppe, ähnlich einem Hort, zur Unterstützung eines geregelteren Tagesablaufs als daheim kommt.

In zwei Kapiteln mit den Überschriften „Davor“ und „Danach“ erzählt Jeremias, der dieses Buch gemeinsam mit Ulrike Strerath-Bolz geschrieben hat, wie sein Dasein ausgesehen hat, bevor er 2012 in dem SOS-Jugendhaus aufgenommen wurde und dieser Ort für sein Leben „Danach“ ein Wendepunkt wurde. In dem SOS-Jugendhaus wurde er zum ersten Mal aufgefangen, sein Leben bekam Ordnung, Struktur, Förderung und auch die Freiheit, endlich Kind und Jugendlicher sein zu dürfen. Jeremias äußert sich sehr dankbar, dass er durch die großartige Arbeit (die nicht zu verwechseln ist mit einem „Job“) der Erzieher, Sozialpädagogen, hier in dem SOS-Jugendhaus, die Basis für eine Neuausrichtung seines Lebens bekommen hat.

Bewegend sind seine Beschreibungen voller Traurigkeit, wie sehr er sich im Laufe der Zeit durch seinen Willen und die geförderte Entwicklung von seinen Eltern und seinem Zwillingsbruder entfernt hat und weiß doch, für sich die richtigen Schritte getan zu haben. 2019 machte er das Internationale Abitur am United World College in Freiburg und studiert derzeit Umwelt- und Politikwissenschaften am St. Olaf College in Minnesota.

Sehr kritisch setzt sich der junge Mann auch mit der Gesellschaftspolitik bzw. der Kampfpolitik, im Hinblick auf verschiedene nachhaltigen Lösungsansätzen zur Situation der Kinderarmut in Deutschland auseinander. Um denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden, zeigt er als Betroffener von Kinderarmut sein politisches, aktives Engagement als Mitglied der SPD. Dabei bemüht er sich auf vielfache Weise unermüdlich, wie auch mit diesem Buch, Vorurteile abzubauen und ermutigt die Gesellschaft, aufeinander zuzugehen.

Jeremias Thiel zeigt mit seiner aufrüttelnden, ehrlichen und offenen Lebensgeschichte die massiven sozialen Ungerechtigkeiten und deren eklatanten Folgen gegenüber Kinder aus (überwiegend) Hartz IV-Familien. Zu dem Thema „Was Hartz IV mit Kinderarmut zu tun hat“ führt der junge Autor intensiv ein erschreckendes und sprachlos machendes negatives Ergebnis unserer Politik und Gesellschaft auf.

Der junge Autor hat ein zweigeteiltes Leben und steht in seiner, mit Glück, eisernem Willen und guter Förderung beachtlichen Entwicklung in vielerlei Hinsicht noch am Anfang seines Lebens, wobei das Thema „Resilienz“ ihm täglich gegenüber steht.

Diesem Buch wünscht man ganz viele Leser, vor allem von Politikern und den Menschen, die über die, nach wie vor herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten der in Armut lebenden und benachteiligten Kinder, urteilen und handeln.

Jeremias Thiel ist es wichtig, dass endlich „Brücken gebaut werden, die ein gegenseitiges Verständnis möglich machen.“

Das wäre ein kleiner Anfang…

Sabine Wagner

 

 

 

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