Suzanne Collins
Übersetzt von Sylke Hachmeister
Oetinger Verlag, Mai 2020
608 Seiten, € 26,00
In dem Prequel zur Tribute von Panem-Trilogie steht der Erzfeind von Katniss, Präsident Snow, im Fokus, besser gesagt, seine jüngere Version von ihm. Mit 18 Jahren, aus einer ehemals wohlhabenden Familie kommend, lebt seine Familie nach dem Krieg in Armut. Als er bei den 10. Hungerspielen mit einigen anderen Klassenkameraden auserwählt wird, zum ersten Mal als Mentor für die Tribute zu fungieren, sieht er dies als Chance, Ruhm für sich und seine Familie zu ernten. Doch statt eine der begehrten Tribute aus den Distrikten 1 oder 2 zu erhalten, bekommt er den weiblichen Tribut aus Distrikt 12 zugeteilt, der zunächst wenig Erfolgschancen verspricht. Wird es dem jungen Coriolanus Snow gelingen, durch die Hungerspiele Ruhm und Ehre für sich und seine Familie zu erringen? Oder wird es sein Untergang sein?
Als ich hörte, dass Suzanne Collins ein Prequel zu ihrer Tribute von Panem-Trilogie schreibt, in der der Erzfeind von Katniss im Fokus stehen sollte, war ich sehr neugierig. Nicht nur in den Büchern, sondern auch auf der Leinwand (gespielt vom großartigen Donald Sutherland) ist er einer der faszinierendsten Bösewichte, die das dystopische Genre der Buchwelt hervorgebracht hat.
Nun, wo ich das Prequel gelesen habe, muss ich sagen, dass ich dies mit gemischten Gefühlen beiseite lege. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man die Trilogie gelesen hat, und das nicht nur wegen des besseren Verständnisses dieser Welt. Die vielen kleinen Referenzen, wie Namen und auch Figuren, die die Autorin im Hinblick auf ihre Trilogie in dem Prequel auftauchen lässt, ringen dem Leser hier und da schon ein Schmunzeln und sogar ein Erstaunen ab. Die Figur des Coriolanus Snow ist jedoch meiner Meinung nach eher weniger faszinierend gelungen. Bereits in der Trilogie ist man einem Präsident Snow als berechnenden, kalten und auch sehr arroganten Charakter begegnet, der glaubt, dass das Kapitol die einzige Instanz ist, die für Ordnung in den Distrikten sorgen kann. Im Prequel lernen wir endlich, wer ihm diese Einstellung überhaupt erst näher gebracht hat, doch dazu später mehr.
Präsident Snow, oder wie er im Buch immer genannt wird, Coriolanus, ist ein arroganter, überheblicher, selbstgefälliger Teenager, dem der Schein des Äußeren am wichtigsten ist und dem es nur durch sein Charisma gelingt, sein wahres Ich zu verbergen. Nachdem seine Familie durch den Krieg alles an Wohlstand eingebüßt hat, ist es ihm wichtig, dass niemand im Kapitol davon erfährt. Den einzigen Personen, denen er sich nahe fühlt, sind seine Großmutter und seine Cousine. Diese Charakterzüge lassen sich einzig damit erklären, dass Coriolanus a) aus einer ehemals wohlhabenden Familie stammt und b) dass er im Kapitol aufgewachsen ist, der aus dem Krieg als Sieger hervorgegangen ist. Dementsprechend betrachten sich die Bewohner des Kapitols den Distrikten als überlegen. Diese Charaktereigenschaften des jungen Präsidenten Snow nervten mich irgendwann gewaltig, auch wenn dadurch zumindest schon ein Ansatz des Charakters dieses Mannes beschrieben wird, zu dem er sich später entwickelt.
Das große Hauptereignis, dass sich im ersten Teil des Buches als roter Faden durch die Geschichte zieht, sind die 10. Hungerspiele, bei dem zum ersten Mal Mentoren die Tribute durch die Hungerspiele begleiten sollen. Dies ist ein weiterer positiver Punkt, der dem Prequel zuzuschreiben ist, da man so erfährt, wie die Hungerspiele vor 65 Jahren aussahen und wie sie schließlich zu den Hungerspielen wurden, denen man mit Katniss letztendlich begegnet. Denn diese Hungerspiele zeigen noch keine Anzeichen des großen, umfangreichen Events, wie die, die die der Leser in der Trilogie kennenlernt. Vielmehr wird es als eine reine Strafaktion betrachtet, mit der die Distrikte für ihre Rebellion büßen sollen. Die Tribute werden eher als Tiere, denn als Menschen betrachtet und dementsprechend auch behandelt.
Womit ich jetzt zu dem weiblichen Tribut kommen möchte, zu dem Coriolanus (aus seiner Sicht) zu seinem Unglück eingeteilt wird. Natürlich ist es eine nette Idee und wird auch mit einem kleinen Augenzwinkern bedacht, dass Coriolanus Tribut Lucy Gray wie Katniss aus Distrikt 12 kommt. Auch wenn es daneben noch einige Berührungspunkte zwischen der Heldin aus der Trilogie und Lucy Gray gibt, sind auch große Unterschiede zwischen den beiden Charakteren zu erkennen. Lucy Gray kann man in kurzen Worten als „bunten Vogel“ beschreiben, was schon bei ihrer Kleider-Auswahl anfängt. Darüber hinaus präsentiert sie sich dem Leser als Showgirl, das sich auf der Bühne am wohlsten fühlt und am liebsten Musik macht. Im Gegensatz zu den anderen Tributen ist sie keine „normale“ Distriktbewohnerin, sondern stammt von den Covey, einem wandernden Künstlervolk, ab, dass in Distrikt 12 von den Friedenswächtern eingesperrt wurde. Somit empfindet sie sich nicht wirklich als Bewohnerin von Distrikt 12, was sie während der Handlung auch mehrmals deutlich klarmacht. Damit ist sie das genaue Gegenteil von dem Bild, das sich Coriolanus von den Distriktbewohnern immer gemacht hat und übt auf ihn eine Faszination aus.
Die „Liebesgeschichte“, die sich zwischen ihm und Lucy Gray während der Handlung entwickelt, wirkte auf mich als Leserin jedoch zu gewollt. Zudem würde man die Gefühle, die Coriolanus für Lucy Gray empfindet, weniger als Liebe, denn als eine Mischung aus Faszination und Besitzergreifung als sein Tribut bezeichnen. Von echter Liebe kann hiermit also kaum die Rede sein. Ein weiterer negativer Punkt neben der Skizzierung von Coriolanus Charakter und der gewollten Liebesgeschichte zwischen ihm und Lucy Gray ist der Spannungsbogen der Geschichte. Während der Spannungsbogen in der ersten Hälfte des Buches mit den 10. Hungerspielen noch für ein Interesse bei mir sorgte, flachte er ab der Mitte des Buches deutlich ab und verliert sich dann ganz. Dies ist sehr schade, da die Autorin in der zweiten Hälfte hier noch durchaus mehr Spannung hätte reinbringen können.
Neben den beiden wichtigsten Charakteren Coriolanus und Lucy Gray möchte ich nun kurz etwas zu den zwei anderen wichtigen Charakteren in diesem Prequel sagen. Dies sind einmal Sejanus Plinth, ein Klassenkamerad von Coriolanus und die Oberste Spielmacherin Dr. Gaul. Sejanus Plinth kann man als den „Rebellen“ in der Geschichte ausmachen. Ursprünglich aus Distrikt 2 kommend, ist seine Familie durch den Krieg zu Wohlstand gelangt und in das Kapitol gezogen. Jedoch blieb Sejanus immer aufgrund seiner Herkunft ein Außenseiter, der sich auch nie wirklich seiner neuen Heimat verbunden fühlte. Dieser Konflikt wird noch dadurch verschärft, als er als Tribut einen Jungen und ehemaligen Klassenkameraden aus Distrikt 2 zugeteilt bekommt. Man kann Sejanus wirklich bedauern, und das nicht nur aufgrund seines Interessenkonflikts, sondern auch, weil er von Coriolanus nur benutzt wird. Sejanus bemerkt dies jedoch nicht, vielmehr betrachtet er Coriolanus sogar als Freund, was nur dadurch zu entschuldigen ist, dass Coriolanus ein überaus charismatisches Auftreten besitzt, womit er gekonnt seine Verachtung gegenüber dem Außenseiter zu verbergen sucht.
Der andere und meiner Meinung nach interessanteste Charakter in diesem Prequel ist die Oberste Spielmacherin Dr. Volumnia Gaul oder kurz, Dr. Gaul genannt. Sie als die typische Gegenspielerin der Hauptfigur zu bezeichnen, würde dem Charakter nicht ganz gerecht werden, denn sie dient auch in gewisser Weise als Mentorin für den jungen Präsidenten Snow. Dr. Gaul ist die erste, die Coriolanus Potenzial erkennt und, aus der Sicht der Leserin, auch den Menschen, zu dem er später werden wird. Sadistisch, kühl, listig und überaus clever ist Suzanne Collins mit Dr. Gaul ein neuer vielschichtiger Charakter gelungen, der Coriolanus genau die Denkanstöße gibt, die ihn zu dem Denken anleiten, mit dem er später seine Taten rechtfertigen wird. Ein weiterer Punkt, der mir während des Lesens positiv aufgefallen ist, ist das Motiv der Musik. Mit Lucy Gray setzt die Autorin das Thema der Musik dieses Mal etwas mehr in den Mittelpunkt, als sie das in der Trilogie getan hat, vor allem durch ihre Rolle als Sängerin und ihrer Herkunft zu den Covey. Mir hat sehr gefallen, dass sie in diesem Buch nicht nur Lieder aus der Hauptreihe aufgreift, sondern auch alte Klassiker, wie „Oh my darling, Clementine“ durch die die Geschichte des wandernden Künstlervolks Covey auch in die Geschichte von Panem miteinfließt.
Mein Fazit für das Prequel der Tribute von Panem-Trilogie:
Das Prequel ist eine schöne Ergänzung für alle eingefleischten Tribute von Panem-Fans und für diejenigen, die sich für die Entstehungsgeschichte des Gegenspielers von Katniss interessieren. Durch viele Referenzen zu der Hauptreihe sorgt die Autorin für die nötige Freude am Lesen der Geschichte. Jedoch wird diese Freude durch eine eher schlaffe und einfache Charakterisierung des jungen Präsidenten Snow, sowie einer gewollten Liebesgeschichte und eines Spannungsbogens, der in der Mitte des Buches abreißt, gemindert. Ein Buch, das man als Fan gerne lesen kann, aber nicht unbedingt muss.
Johanna Hoß