Ursula März
Piper Verlag, 05.08.2019
192 Seiten, € 20,00
Mit „Tante Martl“ präsentiert die Journalistin und Literaturkritikerin Ursula März, geboren 1957 in Herzogenaurach, ihr Debüt als Schriftstellerin neben zwei Erzählbänden.
Tante Martl ist die schrullige, eigenbrötlerische Patentante von Ursula März, die ihre telefonischen Berichte stets mit einem lang gezogenen Stöhnen unter einer modularen Bandbreite eröffnete, bevor sie entweder mit empörenden, jammernden oder angriffslustig-aggressiven Erzählungen loslegte.
Die Tante war Zeit ihres Lebens Lehrerin, Junggesellin und blieb kinderlos. Als jüngste von drei Mädchen galt sie nach ihrer Geburt sieben Tage lang als Bub, da ihr Vater aus lauter Verdruss über das dritte Mädchen sie als „Martin“ beim Standesamt in die Geburtsurkunde eintragen ließ. Erst nach mehrmaliger Aufforderung ging der Vater erneut zum Standesamt und aus Martin wurde endlich Martina. Natürlich wurde dieses „Versehen“ nicht nur zu einer Familien-Anekdote, die noch über Tante Martls Tod hinaus erzählt wurde, sie war auch damals das Klatschgespräch in der kleinen Stadt Zweibrücken in der Pfalz, in der Martl ihr ganzes Leben lang lebte.
Vom Vater als drittes Mädchen von Klein an abgelehnt, hatte Martl ihr Leben lang eine Außenseiterstellung. Bärbl war die Älteste, fügsame und brave Tochter, die Mittlere, Rössche oder Rosa, war das Lieblingskind vom Vater, die von allen Haushaltsdiensten befreit war und wo es nur ging bevorzugt wurde. Martl entwickelte sich dadurch als Revoluzzerin der drei Geschwister, kämpfte stets um Liebe und Anerkennung, die sie nicht bekam, dafür gab es umso häufiger Schläge als Bestrafung für ihr unmögliches, aufmüpfiges Benehmen. Die Mutter konnte sich gegen den Vater nicht durchsetzen und nur schlecht auffangen. Während Bärbl und Rosa heirateten, Rosa davon träumte, Ärztin zu werden, aber Mutter von Ursula wurde und die beiden die damals klassisch-konservativen Rolle der Hausfrau und Mutter erfüllten, blieb Martl ohne Mann und Kinder. Sie studierte und wurde verbeamtete Lehrerin und kümmerte sich, im Elternhaus weiter wohnend, neben ihrem Beruf rührend bis zu ihrem Tod um ihre durch Alter und Krankheiten gebrechlich werdenden Eltern, während Bärbl und Rosa weiter wegzogen.
Die Autorin gibt zu, dass sie dieses Buch erst schreiben konnte, nachdem ihre Mutter Rosa sowie ihre Geschwister Bärbl und Martl verstorben waren. Vorher hätte sie sich nicht getraut, so tief in die Familienbeziehungen einzusteigen und daraus ein Buch zu machen. Ursula März beschreibt liebevoll und dennoch kritisch die Persönlichkeit und das Verhalten ihrer Mutter wie der beiden Tanten, wobei ihre Patentante die zentrale Person ist. Mit einer gewissen Lakonie legt Ursula März verborgene Schichten von den Großeltern frei, die, insbesondere der Vater, ihre drei Töchter mit himmelschreienden Ungerechtigkeiten unterschiedlich behandelten, was natürlich auf ihre persönliche Entwicklungen und späteres Leben Einfluss nimmt.
Auch auf das Leben und Verhalten ihrer Mutter wie auf das von Tante Bärbl wirft Ursula März einen analysierenden, differenzierten Blick, ohne die verstorbenen Angehörigen bloßzustellen.
Martl entwickelte sich zu einer schrulligen Lehrerin, die intellektuell gebildet war und ohne Mann selbstbewusst, emanzipiert (zu einer Zeit, in der die Bedeutung des Wortes noch am Anfang war) alleine ihr Leben im Griff hatte. Sie hatte einen Führerschein und Auto, kümmerte sich alleine um Bank- und Verwaltungsgeschäfte, unternahm Reisen in fremde Länder, all das war für ihre beiden Geschwister unvorstellbar. So fragt sich die Autorin, warum ausgerechnet Martl, die von ihren Eltern immer als ungeliebtes Anhängsel behandelt wurde, lange auf ein eigenbestimmtes Leben verzichtete und sich viele Jahre der Pflege ihrer Eltern widmete. Im hohen Alter erfüllt sich für Martl mit einem Fernsehauftritt noch ein Traum.
Mit viel Empathie, einem lakonisch-kritischem Blick erzählt Ursula März auf unterhaltsame Weise von den Erlebnissen mit ihrer Patentante, die bis nach ihrem Tod für unerwartete Begegnungen sorgte und damit ein Mensch und eine emanzipierte Frau war, die ihre Nichte vordergründig zu kennen glaubte, aber deren humorvolle Persönlichkeit ein deutlich facettenreicheres tiefgründigeres Leben voller Überraschungen bereithielt, als nach außen hin bekannt war.
Einen besonderen Charme hat diese Erzählung durch eingebettete Sätze im pfälzischen Dialekt, deren Sinn auch für Nichtpfälzer absolut verständlich sind. Diese phonetischen Mundart-Einlagen fand ich nicht störend, sondern reizvoll und stimmig, denn sie unterstreichen den Charakter von Tante Martl.
Eine warmherzige, humorvolle Familiengeschichte, die sensibel und denoch differenziert davon erzählt, dass sich die Geschwisterkonstellation der drei Schwestern, ausgehend durch die von den Eltern geprägten, ungerechten Erziehung, bis ins hohe Alter nicht wesentlich verändert. Und beim Lesen habe ich, wie ihre Nichte, mit Sympathie festgestellt, dass diese einzigartige, nicht immer verstehende Tante Martl bis zum Schluss immer wieder für Erstaunen sorgt.
Das Cover samt Löffel passt perfekt und versteht man, wenn man das Buch gelesen hat. 😉
Sabine Wagner
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