Matt Haig
Aus dem Englischen von Sabine Hübner
Droemer HC, 01.02.2021
320 Seiten, € 20,00
Matt Haig, 1975 in Sheffield geboren, ist bekannt für seine unterschiedlichen Bücher, die sich zwischen Ratgeber, etwas düstere und außergewöhnliche Familiengeschichten und Romane im fantastischen Bereich bewegen (z.B. „Wie man die Zeit anhält“, dtv 2018). Seit seinem 24. Lebensjahr lebt er mit einer klinischen Depression und verarbeitet diese Krankheit auch in seinen Büchern. So beschreibt er seinen Kampf mit Depressionen 2015 in seinem Sachbuch „Reasons to stay alive“, das auf Platz eins der Sunday-Times-Bestsellerliste stand. Für Matt Haig haben Poesie und Bücher eine ähnliche Wirkung wie Antidepressiva und waren und sind für ihn auch „Lebensretter“. Das transportiert er auch in seinem neuen Buch:
Für die 35 Jahre alte Nora läuft im Leben alles schief: Nach einem Philosophie-Studium hat sie gerade ihren Job in einem Musikladen verloren, sie hat kurze Zeit vorher ihren Freund zwei Tage vor der Hochzeit sitzen gelassen und jetzt wurde auch noch ihr geliebter Kater Voltaire tot aufgefunden. Hinzu kommt noch, dass sie sich mit ihrem Bruder im Streit getrennt hat, da sie als Sängerin die gemeinsame Band verlassen hat, kurz bevor sie ein Label unter Vertrag nehmen wollte. Ihre beste Freundin weilt in Australien, auch da konnte sie sich nicht entscheiden, ihr Angebot anzunehmen und gemeinsam mit ihr für eine gewisse Zeit dort zu leben. Nora fühlt sich verlassen und überall wohin sie auf ihren Lebensweg schaut, sind Abbrüche. In ihrer einsamen Verzweiflung, weil sie keine Perspektive für eine Veränderung und Entwicklung für sich sieht, versucht sie sich mit Tabletten und Alkohol das Leben zu nehmen – und landet in der Mitternachtsbibliothek. Dort empfängt sie Mrs Elm, ihre alte Schulbibliothekarin, zu der sie als Jugendliche geflüchtet ist und mit ihr Schach gespielt hat. Diese erklärt ihr, wie die Mitternachtsbibliothek funktioniert: Mit ihren endlosen Regalen und unzähligen Büchern liegt sie zwischen Leben und Tod und bietet Nora die Chance, andere Leben auszuprobieren, die sie hätte leben können, wenn sie andere Entscheidungen getroffen hätte. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt: „Hättest Du irgendetwas anders gemacht, wenn sich ungeschehen machen ließe, was Du heute bereust?“ Und solange die Mitternachtsbibliothek existiert, ist sie vor ihrem Tod bewahrt. Jedes Buch, das Nora dort in den Regalen sieht, bietet ihr die Möglichkeit, in ein neues Leben einzutauchen. Jede andere Entscheidung in ihren anderen Leben hat zu anderen Ergebnissen von Lebensformen und Wegen geführt. Mrs Elm ist Noras Moderatorin in die Welt der Parallelleben und die einzige Gefahr besteht für sie, wenn sie zwischen den Leben bleibt. Sobald Nora in ihrem eingetauchten Parallelleben feststellt, dass sie davon noch enttäuschter als von ihrem realen Leben ist, kehrt sie in die Mitternachtsbibliothek zurück. Erst wenn sie sich in einem der anderen Leben vollkommen glücklich und angekommen fühlt, kann es ihr gelingen, auch dort zu bleiben.
Mit „Die Mitternachtsbibliothek“ präsentiert der in Brighton lebende Schriftsteller einen komplexen Roman über die Frage, die sich jeder schon einmal gestellt hat, wie das Leben verlaufen wäre, hätte man an bestimmten Punkten eine andere Entscheidung getroffen. Natürlich kann man sich fragen, ob man sich überhaupt mit der Lebensweg-Frage „Hätte, Hätte Fahrradkette“ überhaupt auseinandersetzen will, da Vergangenes nicht zu ändern ist und das Leben im hier und jetzt stattfindet. Matt Haig gelingt es jedoch in einer fesselnden Geschichte kluge und nachdenklich machende Gedanken über gemachte und verpasste Entscheidungen auf dem Lebensweg zu erzählen. Dabei umschifft er elegant gängige Plattitüden oder kitschige Szenen, die bei diesem Thema so nah sind. Man taucht als nahe Beobachter*in mit Nora in jedes ihrer Parallelleben ein und fühlt mit ihr Überraschung, Verwunderung, Ablehnung mit der Überlegung, ob dieses Leben wohl das Richtige für sie wäre – und hofft, bangt um jede ihrer Entscheidung darüber. Matt Haig zeigt im Kleinen, welche große Auswirkungen auch diese für einen Lebensweg haben. Statt mit moralisch erhobenem Finger erzählt Matt Haig sensibel und tiefgründig mit klugen, philosophischen Gedanken von Selbstzweifel, Lebens-Ängsten, Träumen und (auch durch eigene Entscheidungen entstandene) geplatzten Träume, größeren und kleineren Sorgen, die für jeden nachvollziehbar sind.
Depressionen sind unweigerlich ein komplexes Thema, mit dem sich der Autor mit seiner Figur Nora sensibel aber auch letztlich lebensbejahend auseinandersetzt. Matt Haig will keine psychologischen Ratschläge geben, aber er zeigt empathisch, dass er mit dieser Krankheit und seinen Tiefen sowie dem Kampf, immer wieder nach oben zu kommen und an sich zu glauben, lebt.
„Die Mitternachtsbibliothek“ ist ein intensiver Roman, der nachdenklich macht und letztlich zeigt, dass jedes Leben Potenzial in sich hat, aber nicht immer einfach ist, zu entdecken und dann auszuleben. „Denn das Unmögliche geschieht dadurch, dass man lebt.“ Und dafür gehört immer wieder mal mehr oder weniger Mut.
Das Cover und die liebevolle Buchinnengestaltung mit einem Rückgabe-Terminzettel auf der ersten Seite, wie einem leeren Umschlag auf der letzten Seite passen mehrdeutig perfekt.
Sabine Wagner