Joël Dicker
Aus dem Französischen übersetzt von Michaela Meßner und Amelie Thoma
Piper Verlag, März 2021
624 Seiten, € 25,00
In seinem neuesten Roman verlegt Joёl Dicker seinen Handlungsschauplatz im Gegensatz zu seinen anderen Büchern zum ersten Mal von Amerika in die Schweiz, zwischen Genf und Verbier bzw. dort in das Luxus-Hotel Palace de Verbier.
Joёl Dicker ist als kettenrauchender Schriftsteller aus Genf sein eigener Erzähler. Nachdem seine Nachbarin eine unglücklich verlaufende Romace mit ihm beendet hat, flüchtet Dicker in das herrlich gelegene Luxus-Hotel Palace de Verbier um sich abzulenken und zu erholen. Dort trifft er rauchend auf dem Balkon seines Zimmers Nr. 623 auf seine Zimmernachbarin Scarlett. Die realisiert blitzschnell, dass der gutaussehende Mann neben ihr der „Herr Schriftsteller“ ist und im Gespräch stellen sie fest, dass es eine Ungereimtheit in der Zimmernummerierung des Hotels gibt, denn nach Zimmer Nr. 621 folgt nicht 622, sondern 621a. Scarlett hat den Herrn Schriftsteller schnell motiviert, mit ihr gemeinsam herauszufinden, welches Mysterium sich dahinter verbirgt. Nach einiger Recherche finden die beiden heraus, dass es vor einigen Jahren in dem Hotel einen rätselhaften Mord gegeben hat, der offenbar nie geklärt wurde. Was für einen Plot für den Herrn Schriftsteller und seine ab sofort selbst erklärte Assistentin Scarlett.
Das ist die äußere Rahmenhandlung der Geschichte. Der Innenplot handelt von dem traditionsreichen Bankhaus Ebezner aus Genf. Nach dem Tod seines Vaters soll der einzige Sohn Macaire nicht traditionsgemäß der Präsident der Bank werden, da er vor vielen Jahren als Vizepräsident eine gravierende Entscheidung getroffen hat, die sein Vater schwer enttäuscht hat und daher eine andere Regelung für die Nachfolge getroffen hat, indem dies der Bankrat entscheiden soll. Der Banker Lew Lewowitsch scheint die Mehrheit der Stimmen des Rates zu bekommen, was für Macaire natürlich ein Dorn im Auge ist. Pikant ist, dass Lewowitsch auch eine Affäre mit Anastasia hat, der Ehefrau von Macaire. Sie und Lewowitsch kennen sich schon seit langem, hatten sich aber aus den Augen verloren. Während des großen Wochenendes im Palace de Verbier, an dem mit einer riesigen, prunkvollen Feier mit allen angesagten Leuten aus der Schweizer und internationalen Finanzwelt der neue Präsident des Bankhaus Ebezner bekannt gegeben werden soll, geschieht ein Mord, der alles auf den Kopf stellt.
Joёl Dicker verbindet diese beiden Geschichten zunächst sehr geschickt miteinander, wobei er den Innenplot ständig mit verschiedenen Zeitebenen und Rückblenden verschachtelt. Mit dieser Konstruktion führt er nur allmählich die Hintergründe zusammen, die zu dem Mord in Zimmer 622 führen. Was zunächst raffiniert erscheint, bläht sich im Laufe der Story zu einer Langatmigkeit auf, bei der man das Gefühl hat, dass auch der Herr Schriftsteller irgendwann seine Mühe hat, alle Rückblenden und Zeitwechsel zwischen den Personen und den Geschehnissen um das Bankhaus Ebezner sowie der Rahmenhandlung stimmig zusammenkommen zu lassen. Dicker erreicht trotz dieser Langatmigkeit mit ständig neuen sensationellen Vorkommnissen und Entwicklungen einen gewissen Spannungsgrad zu halten, der allerdings je länger dies so fortgesetzt wird, ab dem dritten Teil (von vier Teilen) abflaut. Spätestens ab dem Moment, in dem aufdeckend Silikon-Masken getragen und auf plumpe Weise Liebesbriefe vertauscht werden, war die Geschichte für mich absolut unglaubwürdig und bis dahin verfolgtes Konstrukt wirkte nur noch wie ein billiger Abklatsch zwischen Mission Impossible und MacGyver.
Zwischen all den verschachtelten Zeitebenen und dem Bombardement von Action-Szenen verliert sich jede Tiefe und Glaubwürdigkeit der verschiedenen Personen. Letztlich bleiben die Figuren trotz aller Rückblenden und Erklärungen oberflächlich und stereotyp. Je länger man in dieser Geschichte versinkt, desto holzschnittartiger wirken die Charaktere, eingearbeitet in einer Schablone, die sich auf die reiche Welt der Schweizer Bankiers legt, in der absoluter Luxus und Reichtum die Normalität abbildet. Der zunächst etwas naiv wirkende Macaire wird zum dummen Tölpel degradiert, der gerissene Lewowitsch zum Meisterschauspieler mit übersinnlichen Kräften und Anastasia zum fremdgehenden, geld- und luxusgierigen Blondchen, die natürlich auf alles verzichten könnte, wenn sie nur mit dem richtigen Mann zusammen wäre. Auch sprachlich bleibt dieser Roman keine Offenbarung, wie es den Charakteren an Ausarbeitung fehlt.
Nach über 600 Seiten legt man das Buch enttäuscht aus der Hand. Enttäuscht über so viel Verschachtelung, in der sich die Glaubwürdigkeit der Handlung sowie die Tiefe und Nachvollziehbarkeit in der Figurenanlegung sich komplett verlieren. Ein wenig Selbstverliebtheit des Herrn Schriftstellers bleibt zwischen dem Schreibstil eines Groschenromans und einem Hauch von angelegter Soap Opera dann noch in Erinnerung.
Auf Seite 304 erzählt Joёl Dicker, dass sein geliebter Verleger Bernard de Fallois ihm einmal gesagt hat, „dass ein großer Roman ein Gemälde ist. Eine Welt, die sich demjenigen Leser eröffnet, der sich von dieser gewaltigen Illusion aus Pinselstrichen mitreißen lässt.“
Dieser Roman blendet den Leser vor lauter greller Kleckserei, statt ihn in ein stimmiges Farbenmeer eintauchen zu lassen.
Sabine Wagner