Mut. Machen.Liebe

Hansjörg Nessensohn

Überreuter, 19.07.21

351 Seiten, € 18,00

ab 14 Jahren

 

 

 

Seit vier Jahren kämpft der 19-jährige Paul mit sich und seinen Gefühlen, nachdem er von seinem besten Freund Jonas und erster großen Liebe per Video gegen seinen Willen geoutet wurde.Das hatte das Ende der Freundschaft zu Jonas und einem Gefühlschaos zur Folge, das Paul bis jetzt nicht gelungen ist zu sortieren. Um herauszufinden, wo er heute ist, lässt er sein Praktikum bei einem Steuerberater mit sämtlichen Vorhaltungen und Ermahnungen seines Vaters hinter sich und begibt sich auf eine 30-tägige (Pilger-)Wanderung durch die Toskana nach Rom. Bei einer der Übernachtungsstationen trifft Paul auf die plus-minus 80-jährige Liz, die ebenfalls auf Wanderschaft ist, um in Ruhe Gedanken über ihr Leben aufzuschreiben. Mit ihr muss sich Paul aufgrund mangelnder Betten ein Zimmer teilen, wovon er wenig begeistert ist, denn die muntere, offene ältere Dame, die aus Köln stammt aber schon viele Jahrzehnte in den USA lebt, geht ihm mit ihren neugierigen Fragen auf die Nerven. Doch Liz gelingt es mit ihrer Menschenkenntnis und sensibler, geschickten Art kluge Fragen zu stellen mit Nichtpilger-Paul ins Gespräch zu kommen und den Grund seiner Wanderschaft zu erfahren. Sie treffen im Laufe der Wanderschaft wieder aufeinander und Paul ist gefesselt von Liz erzählten Erinnerungen.

Diese Erinnerungen handeln von Helmut, der in Köln in den fünfziger Jahren lebt und mit Marlene befreundet ist, die, im Gegensatz zu ihm, aus wohlhabendem Haus stammt. Für Marlene ist Helmut dennoch die große Liebe und sie hofft, dass er um ihre Hand anhält. Marlene ist für Helmut eine wunderbare Frau und bester Kumpel. Eines Abends wird Helmut Zeuge, wie ein junger Mann aus einer Kneipe rausgeschmissen, übel beschimpft und geschlagen wird, weil er italienischer Gastarbeiter ist. Helmut ist wütend über diese Ungerechtigkeit und verteidigt den jungen Mann tatkräftig. So lernt er Enzo kennen, der aus Italien stammt und als Eisverkäufer versucht seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Helmut ist auf Anhieb von Enzo fasziniert und spürt Gefühle für ihm, die er bisher nicht gekannt und erlebt hat – auch und gerade für Marlene nicht. Völlig verstört erkennt Helmut, dass seine Gefühle verboten sind und unter Strafe stehen und versucht sich mit aller Macht dagegen zu wehren. Er will seine finanzielle sorglose Zukunft durch die Heirat mit Marlene mit Familiengründung und seiner bevorstehenden Prüfung zum Beamten nicht zerstören. Im Laufe der Zeit treffen Enzo und Helmut immer wieder mehr oder weniger zufällig aufeinander und mit jedem Mal wird sich Helmut seiner Gefühle und Verliebtheit zu Enzo immer bewusster, was ihn gleichermaßen verstört und dennoch immer wieder zu Enzo hinzieht, auch wenn diese Liebe unter den Parapgraph 175 fällt und damit ein zu verfolgender Straftatbestand ist. Das bleibt irgendwann auch Helmuts Freundeskreis nicht verborgen, allen voran seinem Freund Martin, der Polizist und gleichzeitig ein unerbittlicher Feind von Homosexuellen ist und ebensolcher Verteidiger des Paragraphen 175. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Martin trotz aller versuchten Heimlichkeiten feststellt, in welcher Beziehung Helmut zu Enzo steht, was für Helmut den Zusammenbruch seiner bisherigen Welt bedeutet.

Hansjörg Nessensohn gelingt es mühelos in abwechselnden Abschnitten die zwei parallel laufenden Geschichten von Paul in der Gegenwart und der dominierenden von Helmut und Enzo in den fünfziger Jahren mit all den für die damalige Zeit normalen engen konservativen Werten, Vorstellungen der Gesellschaft von Liebe, Familie lebendig zu machen und spannend zu verbinden. Die Übergänge der von Liz „erzählten“ Erinnerungen sind dabei nicht immer inhaltlich fließend kongruent, was aber letztlich dem Handlungsaufbau und der Spannung keinen Abbruch tut, da die vergangene Erzählung kursiv geschrieben ist. Mit sensibler Empathie gelingt dem Autor für mich eine schnelle Verbindung und Identifikation zu seinen Figuren Paul, Helmut und Enzo. Auch die ältere Dame Liz, die sich mit warmherzigen klugen, lebenserfahrenen Gedanken mit Paul über seine Probleme und Lebensfragen austauscht, habe ich schnell ins Herz geschlossen.

Die Verbindung von Gegenwart und die Zeit der 50iger Jahren in Köln und der Gegenüberstellung der Akzeptanz, Toleranz und Möglichkeit des offenen, unbestraften Auslebens von Homosexualität, insbesondere gleichgeschlechtlich liebenden Männern in diesen beiden Zeiten, ist Hansjörg Nessensohn in zwei bewegenden, spannenden und leicht zu lesenden Geschichten hervorragend gelungen. Es macht auch heute noch traurig, die unendlichen Qualen von Helmut zu lesen, der sich seiner Homosexualität bewusst ist, aber genauso weiß, dass mit einem Ausleben eine Gefängnisstrafe droht und seine berufliche wie existentielle Zukunft zunichte ist. Die Auswirkungen des Paragraphen 175 schockieren auch heute, nicht zu vergessen, dass dieser Paragraph erst 1994 (!) endgültig abgeschafft wurde. Ein Fortschritt, aber Homophobie, Ausgrenzung wegen gleichgeschlechtlicher Liebe begegnet man auch heute noch zu oft im Alltag und Beruf, als dass man von einer gleichberechtigten Akzeptanz sprechen könnte.

Der dicke kartonierte Einband ist originell und ungewöhnlich in der Haptik. Perfekt und passend der Titel in den Regenbogenfarben.

Sabine Wagner

P.S. Mark Forster hat sicher auch Freude an diesem Buch. 😉

Dieser Beitrag wurde unter 4 Bücher, Autoren, Autoren L - O, Bestenliste veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentare sind geschlossen.