Chris Whitaker
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Piper Verlag, 01.07.2021
448 Seiten, € 22,00
Der britische Autor Chris Whitaker lässt seinen in vier Hauptkapiteln unterteilten neuen Roman „Von Hier bis zum Anfang“ in den USA spielen, zwischen Kalifornien und der weiten, wilden Natur Montanas, in der es um Rache, Sühne, Misstrauen, Angst und der Frage geht, wie ein Mordfall das Leben der Hinterbliebenen, auch Jahrzehnte später, beeinflusst.
Vor 30 Jahren wurde die am Meer liegende, kalifornische Kleinstadt und Urlaubsdomizil Cape Haven durch den Mord an der damals siebenjährigen Sissy, die jüngere Schwester von Star, schwer erschüttert. Als vermeintlichen Mörder wurde Vincent King überführt und zu 30 Jahren Haft verurteilt. Schon damals hat sein bester Freund Walker, der heute Polizist ist, an seiner Schuld gezweifelt und steht ihm bis heute, am Entlassungstag aus seiner jahrzehntelanger Haft, an seiner Seite. Doch genauso kümmert sich Walker seit damals um Star sowie um ihre beiden Kinder, der 13-jährigen Duchess und dem fünfjährigen Robin. Star ist es nach dem Mord an ihrer Schwester und von ihrer eigenen Familie nicht unterstützt, nicht gelungen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Da die beiden Väter ihrer Kinder sich aus dem Staub gemacht haben, versucht sie sich und ihre beiden Kinder mit Gelegenheitsjobs und als Sängerin über Wasser zu halten, was ihr aber nicht gelingt, dafür tröstet sie sich mit reichlich Alkohol. So unreif ihre Mutter ist, so erwachsen, zu erwachsen, ist Duchess, die sich rührend und liebevoll um ihren kleinen Bruder kümmert, der mit seinen fünf Jahren schon viel psychische Härte verkraften muss. Duchess hat durch all die von ihr übernommenen Aufgaben, die eigentlich zu einer Mutter gehören, einen lebenserfahrenen und erwachsenen Blick auf ihre nicht verantwortungsvolle, nicht funktionierende Mutter bekommen. Sie ist dadurch wild, hart gegen sich selbst und gegen das Leben geworden, das sich in teils asozialem Verhalten zeigt, was aber nachvollziehbar ist. Duchess bezeichnet sich als eine Outlaw, der niemand etwas vorschreibt und die für sich und Robin alleine sorgt.
Als Vincent aus der Haft entlassen wird und sich Chief Walker um ihn, gleichzeitig auch um Duchess, Robin und Star kümmert, beginnt das Gerede in der Kleinstadt und Walker gerät zwischen die Fronten. Die Mitbewohner von damals wohnen auch heute noch in Cape Haven und treten Vincent mit kritischer Skepsis gegenüber, der selber nur Ruhe und Einsamkeit sucht.
Als kurze Zeit später Star ermordet wird, bricht das Misstrauen und die Angst Vincent gegenüber erneut auf und wieder halten sie Vincent für den Mörder, auch wenn die Beweislage erneut nicht eindeutig ist. Jetzt gilt es auch noch zwei Kinder zu versorgen und ihnen einen Halt und festen Lebensmittelpunkt zu geben, zum ersten Mal in ihrem Leben. Walker bringt die beiden zu Stars Vater, der auf einer Farm in Montana lebt. Das dieses noch so gut gemeinte Vorhaben mit Duchess alles andere als einfach wird und zu scheitern droht, wird den Beteiligten schnell klar. Doch es scheint keine Alternative zu geben.
Chris Walker erzählt diese kompakte Geschichte über ein Verbrechen, Rache, Misstrauen, Angst von dem zerrütteten Leben der Hinterbliebenen und arbeitet dabei die einzelnen Figuren wie auch die „Nebenfiguren“ mit einer großen Tiefe aus, so dass ich mich beim Lesen zeitweise wie eine beobachtende Mitbewohner von Cape Haven fühlte. Die Zerrissenheit, und die Agression von Duchess wie das Misstrauen und die Angst der Mitbewohner sind beinahe schmerzlich spürbar. Ebenso die Tatsache, wie verzweifelt Chief Walker sich um alle bemüht und dabei seine eigene, fortschreitende Parkinson-Erkrankung geheim zu halten.
Dem Autor ist eine spannende Story mit faszinierenden und hervorragend ausgearbeiteten Protagonisten gelungen, die vor einer amerikanischen großen Naturkulisse sehr viel Raum und Platz braucht. Das ist für mich der Haken an dem Buch, so sehr ich es auch bis zu einem bestimmten Punkt verschlungen habe. Aber der Nachteil dieser Story ist, dass ich mir dieses Setting und die Figuren tatsächlich nur in der Kulisse der Weiten von Montana vorstellen kann, dabei erinnert es mich an einigen Stellen an eine Western-Attitüde, z.B. als Duchess von der Farm ihres Großvaters abhaut. Am Ende wird mir der Roman dann mit einer Klippen-Show-Down-Situation und einem bemühten Happy-End mit kitschiger Vater-Findung definitiv zu amerikanisch und zu übertrieben dramatisch. Das ist so schade, denn damit verliert sich für mich die bis dahin hervorragend aufgebaute fesselnde Geschichte und in Teilen die bis dahin ausgefeilten Figuren verlieren für mich an Glaubwürdigkeit. Schade, weniger Western-Attitüde, weniger Herz-Schmerz-Drama wäre mehr gewesen, das hat die Geschichte gar nicht nötig. Von daher kann ich den Vergleich mit dem Buch „Der Gesang der Flusskrebse“ nicht teilen, auch wenn das vorliegende Buch mich nur in Teilen enttäuscht hat, aber die waren wesentlich.
Das Cover ist stimmungsvoll schön und hebt sich von vielen mittlerweile gleich aussehenden Cover angenehm ab.
Sabine Wagner