Sarah Höflich
dtv, 20. August 2021
384 Seiten, € 18,00
Die komplexe und spannende Geschichte „Heimat Sterben“ ist das Romandebüt von Sarah Höflich, Jahrgang 1979, die mit ihrer Familie in Köln lebt.
Als die hochbetagte ältere Dame Tilde Ahrens im Sterben liegt, eilt ihre Lieblingsenkelin Hanna, die in den USA als Journalistin für ein Kulturmagazin arbeitet zu ihr nach Hamburg, um Abschied zu nehmen. Beide Schwestern haben aus unterschiedlichen Gründen ein enges Verhältnis zu Tante Tilde, doch Hannas Band ist noch ein wenig enger, weil sie bei ihrer Tante aufgewachsen ist, während Trixie bei ihrer Hippi-Mutter und Lebensgefährten in der Schweiz groß wurde. Schon während des Fluges nach Deutschland taucht Hanna in die neue politische Atmosphäre ein, die ihrem Schwager Felix geschuldet ist, der kurz davor steht Bundeskanzler zu werden. Zu ihrer Schwester Trixie hatte Hanna schon immer ein distanziertes Verhältnis, über die politischen Ansichten ihres Mannes ist sie mehr als befremdet. Doch als der charismatische Felix tatsächlich Bundeskanzler wird, gelingt es ihm mit raffinierter Argumentations- und Überzeugungskunst Hanna zu überreden, dass sie ihn zukünftig in außenpolitischen Fragen als Beraterin zur Seite steht, da sie eine kluge, scharfe und über den Tellerrand hinausblickende Denkerin ist. Hanna hat zwei Tage ihre Entscheidung zu überdenken und da auf sie in den USA eine untreue und wieder einmal unglückliche Liebe wartet, sie von Tante Tilde ihr Haus geerbt hat, entscheidet sie sich für diese Position, auch wenn ihr nicht wirklich wohl dabei ist. Sie rutscht in eine politische Welt voller Intrigen, Neid ab, die für sie völlig fremd ist und gerät zusehends in einen immer größer werdenden Loyalitätskonflikt. Ihre persönliche Zerrissenheit, einerseits ihren Schwager und sich selbst zu zeigen, was sie kann und sich einerseits einzugestehen, dass sie im Grunde nicht hinter der politischen Arbeit mit ihr so fernen radikalen Überzeugungen steht, lässt Hanna jeden Tag tiefer in ihre persönliche Zerrissenheit fallen. Gleichzeitig steht Deutschland unter der Regierung von Felix und seiner Partei sowie den Intrigen der Opposition aus den eigenen Reihen vor einer innerdeutsche und globalen Katastrophe: Mit dem Ausstieg aus der EU, die Annexion von Österreich und immer radikaler werdenden nationalsozialistischen Gesetze steht ein Viertes Reich kurz bevor.
Sarah Höflich gelingt es entgegen relativ kurzen, aufeinander folgenden Abschnitten und häufigen zeitlich perspektivischen Wechsel die verschiedenen Figuren aus drei Generationen vorzustellen und geschickt zu einer vielschichtigen Familiengeschichte mit einem breiten Stammbaum miteinander zu verbinden. Mit dynamischen Tempo baut die Autorin eine komplexe, verschachtelte aber auch hochspannende Story in einer Zeitspanne vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, mit im Laufe der Handlung sich immer tiefer offenbarenden Charakteren.
Die Autorin fächert das fiktive politische Setting einer intriganten Opposition und Illoyalität in den eigenen Reihen mit einer gewissen Dramatik aus, die ich aber nicht an allen Stellen als überzogen empfinde, was hinsichtlich der Realität jedoch bedenklich ist. Nur die Entwicklung zum Ende habe ich zu übertrieben und nach einem amerikanischen, actionreichen Showdown-Effekt bemüht empfunden, was mich das Buch zwar mit einem logisch offenen Ende, aber dennoch leider dann am Schluss zu aufgeblasen aus der Hand legen ließ.
Was aus Deutschland unter nationalsozialistischen, rechtsextremen Gedankengut wird, haben wir schon einmal erlebt und es gruselte mich immer wieder, diese spannende, politische Familiengeschichte in dem Wissen zu lesen, dass die Realität hier leider gar nicht so weit von der Fiktion entfernt ist, aber auch in der Hoffnung, dass wir aus unserer Geschichte lernen.
Sabine Wagner