Andreas Wagner
Droemer Taschenbuch, 01.09.2021
256 Seiten, Euro 12,40
Mit „Jahresringe“ präsentiert der Autor Andreas Wagner, der in seinem Hauptberuf an einer Realschule als Sozialarbeiter tätig ist, seinen ersten Roman.
Sein Debüt ist eine dreiteilige Familiengeschichte, die drei Generationen verbindet und in einem kleinen Dorf am Rande des Hambacher Forst verortet ist. Im ersten Teil, der zwischen 1946 und 1964 spielt, findet die aus Schirwindt in Ostpreußen geflüchtete sehr junge Leonore Klimkeit in dem kleinen Dorf Lich-Steinstraß in der Nähe von Jülich, zwischen Aachen und Köln, in der Herrenstraße 7 ein neues Zuhause. Der Moppenbäcker Hannes Immerath, genannt Jean, nimmt sie zunächst als Durchreisende auf, doch schnell wird klar, dass Leonore bleiben wird. Sie hilft Jean, der als Kriegsversehrter die Bäckerei und Auslieferungen kaum alleine stemmen kann und froh über die fleißige und zurückhaltende junge Frau ist.
Obwohl Leonore in der Dorfgemeinschaft nicht anerkannt und ausgegrenzt wird, setzt sie sich mit freundlicher Beharrlichkeit durch, auch wenn sie dabei viele bittere Erfahrungen mit den Dorfbewohnern machen muss. Leicht ist auch nicht das Zusammenleben mit Jeans alter Mutter, die nur noch im Wohnzimmer sitzt und Leonore ebenfalls traktiert und ihr klar macht, dass sie geduldet aber nicht erwünscht ist. Nur der deutlich ältere Jean fängt sie mit warmherziger Freundlichkeit auf, auch wenn sich im Laufe der Jahre ihre Verbindung keine Liebesbeziehung wird. Erst spät erkennt Änne, Jeans Mutter, als sie von Leonore mittlerweile bettlägerig gepflegt wird, wie sehr diese Frau auch ihr in all den Jahren gutgetan hat. Als auch Jean immer abständiger wird, übergibt er Leonore mit allen geheimen Familienrezepten die Bäckerei, damit sie diese in seiner Tradition fortführen kann. Da Leonore als ostpreußisches, evangelisches Flüchtlingsmädchen auch als erwachsene Frau in ihrem Dorf und Umgebung keinen Mann für ein gemeinsames Leben findet, aber unbedingt Mutter werden will, sucht sie einen mysteriösen Weg, diesen Wunsch zu realisieren und so kommt 1964 ihr unehelicher Sohn Paul zur Welt, kurz darauf verstirbt Jean Immerath.
Zwischen 1976 und 1986 handelt der zweite Teil der Familiengeschichte, in dem Leonores Sohn Paul der Hauptprotagonist ist. Man begleitet ihn beim Aufwachsen in Lich-Steinstraß und bei den beginnenden Veränderungen durch den Braunkohletagebau und die immer weiter ausufernden Zerstörungen der umliegenden kleinen Dörfer durch Rheinbraun. Auch Paul hat bereits als Kind in der Moppenbäckerei seine Mutter unterstützt und soll diese übernehmen. Doch Lich-Steinstraß steht ebenfalls auf der Liste der zu umsiedelnden Dörfer und damit auch die Bäckerei, die aus mehreren Gründen keine Chance in dem neuen Dorf haben wird. Paul muss zwischen Tradition und den nicht aufzuhaltenden Veränderungen in der Zukunft für sein und das Leben seiner Mutter nicht revidierbare Entscheidungen treffen.
Im dritten Teil des Romans, der zwischen 2017 und 2018 spielt, stehen Pauls Kinder, Jan und Sarah, im Focus. Die beiden Kinder könnten unterschiedlicher nicht sein, Jan ist als Energieanlagenelektroniker Großgeräteführer einer der riesigen Braunkohleabbaubagger, während Sarah vermeintlich Sozialpädagogik in Köln studiert, aber schon seit über einem Jahr das Studium geschmissen hat und zu den Baumhausbesetzern im Hambacher Forst gehört. Ihr Vater Paul ist beim Werkschutz und kontrolliert die Abbaureviere. Es dauert daher nicht lange, bis es mit so unterschiedlichen Haltungen zu heftigen Auseinandersetzungen in der Familie kommt, die auch die mittlerweile hochbetagte und zum Schluss sehr kranke Leonore nicht mehr schlichten, geschweige denn die Familienmitglieder zusammenbringen kann. Sarah ist ihr von ihren beiden Enkelkindern am nächsten, da sie die Liebe zum Wald, zur Natur miteinander verbindet.
Andreas Wagner ist mit dieser leicht zu lesenden und kurzweilig unterhaltenden Familiengeschichte ein respektabler zeitlicher Abriss zwischen 1946 und der Gegenwart gelungen, in dem er lebendig und nachvollziehbar das dörfliche Leben zu jener Zeit mit seinen konservativen, engstirnigen Strukturen und die Entwicklung der Umsiedlung beschreibt. Als Leserin habe ich mich in die kleinen, engen Backsteinhäuser versetzt gefühlt und an sehr nahe an dem Geschehen um Leonore, Jean und den alten Dörflern und später die weitere Familienentwicklung mit der Umsiedlung teilgenommen.
Leonore führt als roter Faden durch die drei Generationen Klimkeit, verbunden mit der Frage, was und wo Heimat ist und bedeutet und wie wichtig sie für jeden Einzelnen ist. Der Autor zeigt anhand der breiten Zeitspanne im Gebiet des Hambacher Forst, wie die persönliche Identität mit einer bestimmten Verortung zusammenhängt und welche Einflüsse eine nicht aufhaltbare Zerstörung auf Lebensentwicklungen haben, die ebenfalls drohen, sich zu verlieren.
Ein anderer roter Faden, der sich durch diese Geschichte zieht, ist die Liebe zur Natur, insbesondere zum Wald. Diese innige Beziehung gibt Leonore ihr Leben lang in schwierigen Situationen Kraft und neuen Mut. In diesen Momenten taucht sie in den nahen Bürgerwald ein und gibt diese Liebe an ihren Sohn Paul weiter, der mitansehen muss, dass der Bürgerwald von den riesigen Braunkohlebaggern vernichtet wird. Mit Sarah, Pauls Tochter und Leonores Enkelin, schließt sich der Kreis, in dem der Wald und die Natur im Mittelpunkt stehen. Sarahs Bruder Jan gerät in einen Gewissenskonflikt, als er den Brasilianer Sam, einen der Baumbesetzer kennenlernt, der ihm zeigt, warum und wie er die Natur verteidigt. Das Jan durch ihn plötzlich bemerkt, dass er schwul ist und sein nicht wirklich präsentables Coming-out hat, fand ich für die Geschichte völlig unwichtig und mit den dürren Sätzen zu diesem Thema auch zu oberflächlich und damit unnötig.
Da ich selber in Aachen aufgewachsen bin und in der unmittelbaren Nähe lebe, sind mir natürlich die leider bis heute drastischen Zerstörungen und versuchten Umsiedelungen der kleinen und größeren Dörfer im nahegelegenen Braunkohleabbaugebiet und der Hambacher Forst nahe. Wenn man einmal auf dem „Indemann“ mit älteren Freunden gestanden hat, die mit Tränen in den Augen noch heute in Himmelsrichtungen zeigen, wo früher mal ihr Dorf, ihr Haus und ihre Schule gestanden haben, wird einem bewusst, was der Verlust von Heimat durch nichtwiederherstellbare Zerstörung und damit auch Entwurzelung bedeutet.
Andreas Wagner hat mit seinem Debüt einen spannenden, vielschichtigen Familienroman geschrieben und hinterfragt kritisch ein leider bis heute trauriges Stück Heimatgeschichte, in dem es im Kontext des bis heute immer noch zerstörenden Braunkohleabbaus um Verlust, Identität und der Liebe zum Wald und zur Natur im Allgemeinen geht. Chapeau!
Sabine Wagner