Khuê Phạm
btb, 13.09.2021
304 Seiten, € 22,00
Die Journalistin Khuê Phạm begann ihre Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule und die erste berufliche Station als Redakteurin war 2009 bei der ZEIT. Für ihre journalistischen Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet und 2012 veröffentlichte sie gemeinsam mit Alice Bota und Özlem Topçu das Buch “Wir neuen Deutschen”, das von Einwandererkindern und ihren Platz in Deutschland erzählt.
“Wo auch immer Ihr seid” ist der erste Roman von Khue Phạm, in dem sie sich literarisch über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren mit den verschiedenen Lebenswegen einer fiktiven Familie auseinandersetzt, die aber auch autobiographische Bezüge zu ihrer Familie hat.
Kiều ist die Tochter vietnamesischer Eltern und in Deutschland geboren. Schon als Kind ist es ihr unangenehm, sich mit diesem Namen vorzustellen, denn immer gibt es Rückfragen, wie er ausgesprochen oder geschrieben wird. Enttäuscht stellt sie fest, dass sie den Namen Kiều auf keinem Schlüsselanhänger, auf keinem Bleistift oder Becher findet. Mit 16 Jahren beschließt sie sich Kim zu nennen, da dieser Name für die Deutschen leichter zu verstehen ist und für Kiều/Kim vieles einfacher macht. Mit zwanzig Jahren lässt sie den Namen auch in ihrem Pass ändern, was für Kim keinen Verlust ihrer Vergangenheit bedeutet.
Als Kim mit dreißig Jahren einen Post über facebook von einem Son Saigon erhält, dass dieser eine Nachricht für ihren Vater hat, schiebt sie diese Info in ihrem schnellen Leben in Berlin beiseite, da sie keinen Son kennt. Die in der Welt verstreute, große Familie des aus Saigon stammenden Vaters Minh und ihrer Mutter Hoa kennt sie nicht und ihr einziger Besuch dort liegt schon fünfzehn Jahre zurück.
Ein paar Wochen später, Kim und ihre beiden jüngeren Brüder treffen sich zum deutschen Weihnachtsfest bei ihren Eltern, klingelt mehrfach das Telefon. Kim hört am anderen Ende eine unbekannte Männerstimme, die vietnamesisch mit ihr spricht. Es ist Son, ihr Onkel Son, der Bruder ihres Vaters Minh, der in Kalifornien lebt und ihm mitteilen möchte, dass die gemeinsame Mutter, die ebenfalls in Kalifornien lebt, im Sterben liegt.
Minh ist Arzt und geht zunächst sachlich und mit wenig Gefühlsäußerung mit dieser Information um. Als seine Mutter kurz darauf verstirbt, bittet Minh seine Tochter ihn und seine Frau Hoah nach Westminster, Kalifornien zur Testamentseröffnung zu begleiten. Kim ist zunächst nicht begeistert von dieser Bitte, doch sie kann ihrem Vater nicht gut etwas abschlagen. Kurz vor der Abreise eröffnet Kims Freund Dorian ihr, mit dem sie zusammenlebt, dass er vorhat, für zwei Jahre nach Tokio zu gehen und dort mit einem Freund ein Restaurant zu eröffnen. Kim ist überrumpelt von diesem Vorhaben, da sie offenbar in Dorians Leben keine Rolle mehr spielt.
Mit vielen Fragen, Zweifeln und Ängsten, die ihr Leben in Berlin und die Zukunft mit Dorian betreffen, und wie sie die ihr bisher völlig unbekannte Familie in Kalifornien aufnimmt, wie sie miteinander umgehen und verstehen werden, fliegt Kim mit Minh und Hoa nach Kalifornien.
Die Zeit in Kalifornien ist für Kim geprägt mit einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrer Familie, vietnamesischer Kultur und Tradition, vielen unausgesprochenen und verdrängten Begebenheiten zwischen ihrem Vater und Onkel Son, die nach dem Tod der Mutter an die Oberfläche kommen und bearbeitet werden müssen – auch wenn viele Fragen offen bleiben.
Für Kim bedeutet diese Reise eine Spurensuche der Geschichte ihrer Familie und Vorfahren, die sie bis heute in der Gegenwart mehr oder weniger deutlich begleiten. Es ist für sie auch eine Aufarbeitung ihrer Identität, ihrer Wurzeln, die ihr neue Antworten auf die Frage „Wo kommst Du her?“, geben.
Mit einer erfrischend jungen, aber an keiner Stelle oberflächlichen Sprache baut sich der fesselnde Roman in zwei Erzählperspektiven auf. Abwechselnd erzählt Kim in der Gegenwart die Reise zu und die Zeit bei den Verwandten in Westminster, Kalifornien und in Rückblicken werden die Lebenswege ihres Vaters Minh und der ihres Onkels Son erzählt, die ebenfalls von der Gegenwart in die Jahre 1967 bis 1980 zurückgehen.
Der Autorin gelingt es mühelos und stringent, mit diesen unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven eine hoch spannende Geschichte auszuarbeiten sowie die beiden getrennt erzählten Lebenswege zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Dabei erfährt der Leser und die Leserin viel über die Geschichte Vietnams, dem Krieg zwischen Nord- und Südvietnam nach der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich 1954. Wie grausam die Spaltung des kommunistischen Nordvietnams und dem sich an die USA orientierten Südvietnams sich auf die jeweilige Bevölkerung, auch für die in Deutschland lebenden und arbeitenden Vietnamesen, auswirkte, erzählt Khuê Phạm in ihrer Familiengeschichte eindrucksvoll. Auch die Tatsache, die heute nur noch wenig präsent ist, wie die Südviatnamesen nach der Wiedervereinigung 1975 in den Arbeits- und Umerziehungslagern gequält und vernichtet wurden. Auf feine Weise spiegelt die Autorin die vietnamesische Kultur in Kleidung und Traditionen, die für Kim einengenden, gesellschaftlichen Vorgaben im Gegensatz zur deutschen Kultur wieder.
Khuê Phạm überfrachtet den Leser/die Leserin nicht mit historischen Details, vielmehr beschreibt sie beeindruckend am Beispiel der Lebensgeschichten ihres Vaters und Onkels, was die Menschen unter der Zerrissenheit des Landes, der kommunistischen Diktatur erleiden mussten. Die Folgen wirken sich bis heute auch auf Kim aus.
Ein großartiges Roman-Debüt, eine fesselnde, fiktive Familiengeschichte, die Vergangenheit und Gegenwart Vietnams mit dem Spagat zwischen zwei Kulturen beeindruckend verbindet. Chapeau.
Sabine Wagner