Kirsten Boie
Oetinger Verlag, Januar 2022
176 Seiten, € 14,00
ab 14 Jahre
Kirsten Boie gehört zu den abwechslungsreichsten, engagiertesten und besten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautor*innen der Gegenwart, die mit zahlreichen bedeutenden Auszeichnungen geehrt wurde und deren Bücher in vielen Sprachen übersetzt werden. Kinder lieben beispielsweise die Abenteuer aus dem Möwenweg, die Sommerby-Reihe oder die Erlebnisse des kleinen Ritter Trenk, Jugendliche können mit ihren spannenden, facettenreichen Abenteuer- und Fantasyromane wie beispielsweise „Alhambra“, „Die Medlevinger“ oder „Skogland“ in fremde Welten eintauchen. Dabei ist der Autorin stets der Bezug zur Realität und Problemen der Gegenwart in ihren Büchern wichtig. Weitere empfehlens- und lesenswerte Bücher sind hier „Ein mittelschönes Leben“, „Der Junge, der Gedanken lesen konnte“ oder „Es gibt Dinge, die man nicht erzählen kann“.
Die Auseinandersetzung mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, unter welchen Umständen Kinder und Jugendliche zu dieser Zeit älter wurden, was von den Erwachsenen vor ihnen verdrängt wurde, welche Auf- und Umbrüche die Kinder und Jugendlichen erlebt haben und für die sie auch kämpfen mussten, erzählt Kirsten Boie sehr beeindruckend in „Monis Jahr“ (2009) und in „Ringel, Rangel, Rosen“ (2013).
Wie wichtig das Thema der Erinnerung und Aufarbeitung über die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg auch für die heutige junge Generation ist, präsentiert die sympathische Autorin aktuell in den beiden Jugendbüchern „Dunkelnacht“ (2021), das auf einer wahren Begebenheit beruht, und aktuell in „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ (2022).
Oetinger Verlag, Februar 2021
112 Seiten, € 13,00
ab 15 Jahre
„Dunkelnacht“ wurde gerade mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet und steht auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022. Das neben der Erwachsenenjury auch die Jugendjury dieses Buch nominiert hat zeigt einmal mehr, wie großartig es Kirsten Boie gelingt, schwierige Themen auf Augenhöhe für Jugendliche zu schreiben.
„Heul doch nicht, Du lebst ja noch“ wurde im Januar 2022 vom NDR zum Buch des Monats gewählt.
Kirsten Boie hat vor kurzem in einem Interview mit dem Chefreporter des Sankt Michaelsbund, Alois Bierl (MK Online vom 18.03.2022), anlässlich der Vergabe des katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises zu „Dunkelnacht“ erzählt, „dass die NS-Zeit für Jugendliche so weit zurückliegt, wie die napoleonischen Kriege.“ Umso wichtiger ist es, immer wieder daran zu erinnern und so möchte die Autorin mit diesem Buch zeigen, „wohin am Ende ein unmenschliches Regime führt und vor welchen Entscheidungen es alle Menschen stellt, die davon leben.“ Wichtig sei die Auseinandersetzung mit dem zweiten Weltkrieg und der Zeit danach auch für die Jugendlichen, deren Eltern aus anderen Gründen zugewandert seien, da sie oft nicht viel über den damaligen Nationalsozialismus wissen. „Auch sie gehören zu den Deutschen dieser und der nächsten Generation und sind Erben der deutschen Geschichte.“
Wie unverarbeitet die Erlebnisse aus dieser Zeit gewesen sind, zeigt die Tatsache, dass viele 80 bis 90-jährige Leser*innen von „Dunkelnacht“ Kirsten Boie lange Briefe geschrieben haben, wie die Autorin berichtet, „in denen sie von ihren Erfahrungen erzählen und das zeigt, wie furchtbar diese Erlebnisse für sie gewesen sein müssen, wenn sie einer fremden Frau davon schreiben.“
„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ ist leider thematisch wie „Dunkelnacht“ hochaktuell. Der Krieg ist gerade beendet, im zerbombten und von den Engländern besetzten Hamburg treffen drei Kinder aufeinander: Jakob, der sich viele Monate in den Ruinen versteckt gehalten hat und bis vor kurzem von einem älteren Herrn, so gut es ging, mit Nahrung versorgt wurde. Plötzlich kommt er nicht mehr und Jakob muss unter großer Angst sein Versteck verlassen, denn der Hunger wird unerträglich. Sein Vater wurde zur Zwangsarbeit rekrutiert, obwohl er Arier ist, seine jüdische Mutter wurde vor nicht allzu langer Zeit nach Theresienstadt deportiert. Traute sehnt sich nach einem normalen Leben mit Schule und Freundinnen. Ihre alten Freundinnen sind verschwunden und Traute mag nicht darüber nachdenken, was mit ihnen geschehen ist. Sie würde gerne in der Gruppe Kinder, die um Hermann sind, mitspielen, dieser hält sie aber für ein kleines Mädchen, das noch mit Puppen spielt und daher nicht zu den Jungs passt. Hermanns Vater ist als Kriegsversehrter ohne Beine zurückgekommen und für alles auf Hilfe angewiesen, womit er nicht klarkommt. Hermann sieht sich mit der Verantwortung für seinen Vater seiner Zukunftspläne beraubt, was auch ihn verbittert. Hermanns Mutter kümmert sich um den Haushalt und hält die Familie über Wasser, indem sie hilft, Trümmer wegzuräumen. Das, was zum Überleben nicht reicht, versucht Hermann auf dem Schwarzmarkt zu tauschen, auch wenn das nicht erlaubt ist und mit Strafe verfolgt wird.
Kirsten Boie gelingt es meisterhaft in knapp sieben Tagen, vom 22.06.1945 bis 29.06.1945, die Geschichte der drei, durch einen Zufall aufeinander treffenden Kinder abwechselnd vorzustellen und sie miteinander zu verbinden. Sie entwickelt mit Jakob, Traute und Hermann einen spannenden Plot vor dem Hintergrund einer zerstörten Stadt, geflüchteten und traumatisierten Menschen. Ihre empathische Sprache ist klar und einfach, sie beschönigt nichts, entwürdigt aber auch ihre Figuren nicht für ihr Handeln, sondern lässt Raum zum Verstehen. Obwohl die die Geschichte 77 Jahre zurückliegt, gelingt es der Autorin es mühelos, den Leser/die Leserin in diese Zeit einzubinden und eine Beziehung zu den unterschiedlichen Kindern zu schaffen, ohne eines hervorzuheben. Ein Glossar am Ende des Buches erklärt verständlich Begriffe und Ereignisse, das Cover wurde, so furchtbar und bewegend es ist, treffend gewählt.
Kirsten Boie wird zu diesen beiden Büchern gerne gefragt, ob solche Themen und Geschichten junge Menschen überfordern würden, was sie entschieden verneint, „da junge Menschen sich gerne während ihrer Adoleszenz mit Problemen auseinandersetzen wollen.“ (aus dem Interview mit Alois Bierl (MK Online vom 18.03.2022)
Die Kinder und Jugendlichen, denen aktuell aus der Ukraine die Flucht gelungen ist, haben furchtbares erlebt, womit sie sich auseinandersetzen müssen und das ihr Leben lang prägen wird.
Als Kirsten Boie den letzten Satz (siehe unten) dieser Geschichte geschrieben hat, ahnte auch sie noch nicht, dass es zu diesem menschenunwürdigen, barbarischen Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen wird. Wir müssen heute auch in Europa feststellen, dass Frieden nicht selbstverständlich ist und vielleicht mag dieser Satz ein klein wenig Hoffnung für eine bessere Zukunft geben.
„Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut.“
Sabine Wagner