Eine gemeinsame Sache

 

Anne Tyler

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Grabinger

Kein & Aber Verlag, März 2022

352 Seiten, € 26

 

 

Anne Tyler, geboren 1941 und heute in Baltimore lebend, ist eine „Grande Dame“ der US- Schriftstellerinnen, insbesondere in der intensiven Reflexion von amerikanischen Mittelstandsfamilien. 1989 erhielt die Schriftstellerin für ihren Roman „Atemübungen“ den Pulitzerpreis, „Der leuchtend blaue Faden“ stand auf der Shortlist des Man Booker Prize und des Women`s Prize for Fiction, ihr Roman „Der Sinn des Ganzen“ stand auf der Longlist des Booker Prize. Tyler`s Hausverlag für den deutschsprachigen Buchmarkt ist seit geraumer Zeit der in der Schweiz ansässige Kein & Aber-Verlag.

Auch in Ihrem neuen Roman beschreibt sie, 1959 beginnend bis 2020, die Entwicklung der Familie Garrett aus Baltimore. 1940 heiraten  Robin und Mercy Garrett, die drei Kinder bekommen: Alice, Lily und David. Wie sich das Leben dieser fünf Personen im Laufe der Zeit und über drei Generationen hinweg mit ihren Partner*innen, Kinder und Enkelkinder verändert, wie die Beziehungen untereinander aufgestellt sind, wie sehr sich das Verhalten eines einzelnen auf das Beziehungsgefüge dauerhaft auswirkt, erzählt Anne Tyler auf faszinierende Weise in dieser vielschichtigen, intensiven Familiengeschichte. Wie kaum eine andere Schriftsteller*in gelingt es ihr nach wenigen Seiten den Leser/die Leserin als Teil der Familie zu integrieren. In dynamischem Tempo erzählt Anne Tyler mit analysierendem Blick und dennoch voller Wärme von der Entfaltung und Veränderung der Garretts, dem Aufsteigen einer Arbeiterfamilie, der konservativen, teils prüden und engstirnigen und nicht über den Horizont hinausblickenden Einstellungen – auch gegenüber einzelner Familienmitglieder – und deren Auswirkungen auf das große Beziehungsgeflecht. Dabei geht es unter anderem um Emanzipation, Unabhängigkeit und dem Ausbruch aus Konventionen.

Zu unterschiedlichen Anlässen, mal ist es ein Sommerurlaub an einem See, mal ein Osterfest oder eine goldene Hochzeit und zum Schluss während Corona, erlebt man in fortschreitender Zeit die Familie, lernt neue Familienmitglieder kennen und erkennt die Veränderungen in Beziehungen oder auch das ringende Festhalten daran.                       Anne Tyler gelingt es, mit ihrem klaren, offenen Auge die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Charaktere der amerikanischen Mittestands-Familie zu durchleuchten, ohne sie bloßzustellen oder herabzusetzen. Der Leser erkennt in der Auseinandersetzung der Figuren, warum manche Beziehungen so sind, wie sie sind und aus welchen Konsequenzen sie sich so entwickelt haben.

„Genauso funktioniert es in einer Familie. Man erweist sich gegenseitig kleine Gefälligkeiten – verbirgt die eine oder andere unangenehme Wahrheit, sieht über diese oder jene Selbsttäuschung hinweg. Kleine Freundlichkeiten.“ – „Und kleine Grausamkeiten.“  (Auszug aus dem Buch)                                                                                                                                                               Ihre Sprache ist warmherzig und mit lakonischem Humor durchsetzt (Übersetzung Michaela Grabinger), ohne sentimental zu werden. Die Schriftstellerin erzählt mit den Garretts von kleineren und größeren Konflikten, Streitereien und deren Auswirkungen, die es wohl in ähnlicher Weise in jeder Familie gibt und daher für den Leser eine widerspiegelnde Identifikation leichtgemacht wird.

Anne Tyler gehört zu den ganz wenigen amerikanischen Schriftsteller*innen, die über mittelständige Familienkonstellationen so unverblümt und dabei so spannend reflektiert schreibt. Auch ihr neuer Roman ist ein sogenannter „page-turner“, den ich nur ungern aus der Hand gelegt habe.

Sabine Wagner

 

 

 

 

 

 

 

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