Claudia Schumacher
dtv, 18.05.2022
376 Seiten, € 22,00
Preisträgerin des Hamburger Literaturpreises 2022
2007
Bereits nach wenigen Seiten wird dem Leser/der Leserin klar, dass die Gewalt in der Liebe in dieser Geschichte im wahrsten Wortsinn gemeint ist.
Zu der in der Ich-Perspektive erzählenden, jugendlichen Juli ist schnell eine Verbindung hergestellt und sie braucht nicht lange, um mit einer schnörkellosen Offenheit die scheinheilige Fassade ihrer Familie Ehre in der Richard-Wagner-Straße 7 in Ederfingen, einem wohlhabenden Vorort von Stuttgart, zu beschreiben.
Julis ältere Schwester Alex ist erwachsen und schon länger aus dem Haus, hat sich weitestgehend von der Familie distanziert. Der Vater, wie die Mutter, ein in Ederfingen bekannter und angesehener Rechtsanwalt, ist ein barbarisch-brutaler Tyrann, der seine Frau und Kinder aus nichtigsten Anlässen grün und blau schlägt und sie verbal auf perfide Weise demütigt. Die verräterischen Beulen und Flecken der Verletzungen werden geschickt retuschiert und wenn sie gar zu heftig sind, schreibt der Bruder des misshandelnden Familienvaters als Arzt entsprechende Atteste aus. Nach außen geben die Ehres die perfekte Wohlstandsfamilie, hinter der Fassade tobt ein pervers brutaler Ehemann und Vater. Weder Julis Mutter, die ihrem Mann hörig ist und von Juli später nüchtern als „Nachlassverwalterin ihrer Kindheit“ (Zitat Seite 217) bezeichnet wird, noch Juli selbst oder ihre älteren Brüder Max und Bruno gelingt es, sich gegen ihren prügelnden Vater zur Wehr zu setzen und leiden ohnmächtig. Jeder Ausbruchsversuch, auch Julis, scheitern furchtbar. Bruno ist für Juli ein wichtiger Bezugspunkt und Retter in der Kindheit und Jugend. Zu ihm flüchtet sie und fühlt sich beschützt und geborgen. „Wir hüten, was übrig war, von der Seele des anderen.“ (Zitat Seite 232)
Für ihren Vater ist Juli dank ihrer außergewöhnlichen mathematischen Fähigkeiten die perfekte Vorzeigetochter, doch Juli flüchtet in die Welt der Zahlen und versinkt damit in eine anderes Universum. Der Vater versucht in einem grausamen Machtspiel, die drei Kinder Max, Bruno und Juli gegeneinander aufzustacheln und sich zu messen. Nie ist jemand von den Dreien gut genug, nie reichen die Leistungen aus. „In der Wagner-Straße 7 wurde Durchschnittlichkeit verachtet, Kinder wurden zur Größe angehalten, in allem, was sie taten.“ (Zitat Seite 213)
2014
Juli ist erwachsen, promoviert in Mathematik in Berlin und verdient sehr viel Geld als professionelle Gamerin mit „Counter Strike“, doch glücklich macht sie das nicht. Weiterhin erzählt sie in der Ich-Perspektive, wie sie sich heftig in Sanyu verliebt und sich zum ersten Mal von ihrer Familie distanzieren kann. Mit der in London lebenden Sanyu führt sie eine Fernbeziehung und steht meist auf die Wünsche ihrer Geliebten abrufbereit, um mit ihr gemeinsam zu reisen und wilde Abenteuer zu erleben. Gleichzeitig versucht Juli mit krankhaftem Ehrgeiz als Gamerin und mit ihrer Promotion weiterzukommen, doch ihr Streben nach Erfolg und Anerkennung zerstört sie weiter. Da Sanyu nichts von Julis familiärer Vergangenheit weiß, kommt sie irgendwann nicht mehr mit ihren Launen und sprunghaften, nicht vorhersehbaren Verhalten zurecht und trennt sich. Erneut fällt Juli in ein tiefes Loch, hadert mit sich und den Erlebnissen und Beziehungen aus ihrem Elternhaus.
2016
Juli hat ihre Promotion immer noch nicht abgeschlossen und lebt inzwischen, nicht ganz freiwillig, mit dem ehrgeizigen und karrieregeilen Thilo in Uetikon, nahe Zürich. Mit der Namensänderung zu Julia Elisa Ehre glaubt sie, ihre Kindheit endgültig hinter sich gelassen zu haben und durch die dritte Erzählperspektive wird das erzwungene Erwachsenwerden hervorgehoben und schafft eine diffuse, aber in sich logische und klug gewählte Distanz zum Leser/zur Leserin. Beruflich ist sie auch ohne Promotion ebenso ehrgeizig wie Thilo, aber noch erfolgreicher, was sie beide im rauschenden Luxus leben lässt. Doch statt sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, lebt Julia immer mehr das Leben ihrer Mutter: angepasst und untergeordnet. Zwischen den erfolgreichen Jobs, dem Luxusleben und dominierenden Thilo passt die enge Beziehung zu ihrem Bruder Bruno nicht mehr. Thilo stülpt immer nachdrücklicher ein negatives Bild über Bruno und beeinflusst Julia so lange, bis sie den Kontakt zu ihrem Bruder rigoros abbricht. Als Thilo eines Tages ausrastet und sie schlägt, muss Julia sich entscheiden, ob sie endlich selbstbestimmt, frei und irgendwann mit Selbstliebe und ehrlicher Liebe anderen gegenüber ihr Leben neu aufstellen will.
Die Journalistin Claudia Schumacher, Jahrgang 1986, lässt ihre Protagonistin mit einer intensiven Wut, großen Verzweiflung und Offenheit über den langen Weg, sich von der Gewalt und Machtspielen in ihrer Familie zu lösen, erzählen. Ich wusste manchmal nicht, was mich durch die hervorragende Übertragung tiefer Empathie zu Juli mehr in den Bann gezogen hat: Die brutal-offene und tiefgründige Familiengeschichte, mit ihren gründlich ausgearbeiteten Charakteren oder die sprachgewaltige Wucht mit einer Bandbreite von schnodderig bis leise melancholisch auf den verschiedenen Erzählebenen. Mit beiden gemeinsam ist der Schriftstellerin ein berührend-trauriges und an einigen Stellen mit lakonischem Witz durchsetzen, großartigen Roman über eine junge Frau gelungen, die langsam erkennt, dass sie viele ungeahnte Stärken in sich hat, die sie nicht brechen lässt und vor einer völligen Zerstörung bewahrt.
Claudia Schumacher hat mit diesem Roman ein gewaltiges wie grandioses Debüt präsentiert, Chapeau!
Das Cover mit dem Ausschnitt des Ölgemäldes „Baywatch“ von Xenia Hausner fällt ins Auge und passt perfekt zur Geschichte.
Sabine Wagner
Ein Interview mit Claudia Schumacher zu diesem Buch ist hier zu lesen.