Vati

Monika Helfer

Hanser Verlag, Januar 2021

176 Seiten, € 20,00

 

 

 

 

In ihrem Roman „ Die Bagage“ , 2020 erschienen, erzählt die 1947 in Vorarlberg geborene Schriftstellerin Monika Helfer die Geschichte ihrer Großeltern und deren Kinder, insbesondere ihrer Mutter Grete. In „Vati“ wendet sie sich der Geschichte ihrer Eltern und vor allem ihrer eigenen Kindheit zu.

„Vati“ wollte er von seinen Kindern genannt werden, weil das modern klang. Nachdem Josef im Zweiten Weltkrieg in Russland das halbe rechte Bein erfroren ist, lernt er im Lazarett Grete kennen, die dort als Krankenschwester arbeitet. Es ist für beide eine zaghafte Annäherung, die sich in eine tiefe Liebe entwickelt. Jeder der beiden ist auf seine Weise vom Krieg traumatisiert und als Kriegsversehrte finden sie ineinander Liebe und Halt.

Josef wird nach dem Krieg Leiter des Kriegsopfererholungsheims auf dem Hochplateau Tschengla in Vorarlberg. Hier wächst Monika mit ihrer älteren Schwester Grete, dem jüngeren Bruder Richard und dem Nesthäkchen Renate auf. Die unverheiratete Schwester ihrer Mutter Grete, Tante Irma, lebt und arbeitet, unterstützt von einer Köchin, ebenfalls  in dem Heim, das nur von Frühjahr bis zum Herbst Kriegsversehrte zur Erholung beherbergt, ansonsten hat die Familie das riesige Haus für sich allein. Die anderen Geschwister der Mutter, die Brüder Heinrich, Walter, Lorenz und Sepp leben fernab des Hochplateaus ihr eigenes Leben und nur Sepp kommt hin und wieder einmal zu Besuch.

Der Vater Josef möchte seiner Familie eine Zukunft bieten und träumt von einem Studium der Chemie, hat er sich doch ein Minilaboratorium in einem Schuppen auf dem weitläufigen Gelände des Erholungsheimes gebaut.

Eines Tages erbt Josef von einem Professor eine sehr umfangreiche Bibliothek als Dankeschön, weil er sich liebevoll um seinen, durch den Krieg physisch wie psychisch schwer zerstörten Sohn im Erholungsheim gekümmert hat. Für Josef, der Bücher über alles liebt und für ihn überlebensnotwendiges Mittel zur eigenen Traumaverarbeitung sind, ist das ein wunderbares Geschenk, das er hegt und pflegt und sich viele Stunden mit Büchern in seine eigene Welt zurückzieht. Als die ersten Pläne an ihn herangetragen werden, dass aus dem Erholungsheim für Kriegsopfer ein Hotel für alle, vor allem für geldeinbringende, Erholungssuchende gemacht werden soll, hat der Vater vor allem eine Sorge, nämlich, was mit der riesigen Bibliothek geschehen soll. Schnell hat er auch eine Idee und Monika ist die Einzige, die er als Geheimnisträgerin mit einbezieht. Monika ist auch die Tochter, der der Vater bereits als Kind die Liebe zur Literatur weitergibt. Doch die Angst vor der Entdeckung, was er unrechtmäßig mit den Büchern gemacht hat, ist für den Vater so übermächtig, dass sie ihm fast sein Leben kostet.

Als Monika elf Jahre alt ist, erkrankt die Mutter an Krebs und stirbt bald. Der Vater erleidet einen psychischen Zusammenbruch und soll in einem Kloster in Bregenz Ruhe und wieder zu sich selber finden. Die Familie bricht auseinander, Monika und ihre Geschwister werden unter den Verwandten aufgeteilt. Richard kommt zu Tante Irma, die ihn schon früh wie einen eigenen Sohn behandelt hat, und Grete und Monika wohnen sehr beengt in einer Dreizimmer-Wohnung in Bregenz, bei Tante Kathe und ihrem Mann Theo mit den eigenen Söhnen.

Monika Helfer erzählt warmherzig und in Teilen mit österreichischen Wort-Charme, mit vielen Zeitsprüngen ihre Erinnerungen und die ihrer Stiefmutter, aus denen sich mit vielen kleinen Geschichten, wie in einem Mosaik, ein Bild ihrer Kindheit zusammensetzt. Dabei klagt sie nicht an oder rechnet ab, sondern versucht heute zu verstehen und nachzuvollziehen, was sie damals erlebt und nicht verstanden hat. Anekdotenähnlich erzählt sie mit lakonischem Witz und einer sprachlichen feinen Dichte von der Nachkriegszeit und der Kriegsversehrtheit beider Elternteile. Mit den Kindern wurde über den Krieg nicht gesprochen, sie hatten zu ertragen, was die Erwachsenen nicht tragen konnten. Dennoch gab es auch in dieser Familie starke Charaktere, wie Tante Kathe oder den stets Bier trinkenden Onkel Theo, sowie die Brüder der Mutter Grete, die mit ihren Mitteln sich bemüht haben, das Beste der zerrissenen Familie zu geben und sie wieder zueinander zuführen. Es ist berührend und erschütternd zu lesen, wie sehr die Autorin an Erinnerungen um ihre leibliche Mutter ringt und wie einsam ihr Vater unter seinem Kriegstrauma gelitten hat. Er flüchtet sich mit Liebe und Leidenschaft in die Welt der Bücher, was ihm fast das Leben gekostet hätte. Obwohl er aus dem Leben gefallen ist, gelingt es ihm mit Unterstützung der Familie und seiner zweiten Ehefrau wieder auf eine stabile Bahn zu kommen. Dass die Kinder dadurch eine belastete und auch traumatisierende Kindheit erlebt haben, wirft Monika Helfer ihrem Vater nicht vor. Im Gegenteil, sie versucht mit der Erzählung auf liebevolle Weise, die Vergangenheit ihrer Eltern und ihre eigene Lebensgeschichte, in der sie auch den frühen Tod ihrer Tochter 2003 verkraften und verarbeiten muss, zu verstehen.

Nach dem erfolgreichen Roman „Die Bagage“ hat Monika Helfer den Kreis der Aufarbeitung ihres intensiven Familienporträts mit „Vati“ beeindruckend geschlossen.

Sabine Wagner

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