Kreise ziehen

Maggie Shipstead

Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz

dtv, 15. Juni 2022

864 Seiten, € 28,00

 

 

 

„Kreiseziehen“ oder „Great Circle“, wie der dritte Roman von Maggie Shipstead im Original lautet, feierte nach seiner Erscheinung 2021 in den USA einen riesigen Erfolg. Der Titel stand auf der Shortlist des Booker Prize 2021, wurde für den Women`s Prize for Fiction 2022 nominiert, stand auf der New Yorker Bestseller List, war TIME`S # 1 Fiction book of the year und wurde als Best book of the year von zahlreichen amerikanischen und auch australischen Zeitungen gewählt.

Für den deutschen Markt wurde das Buch von drei Übersetzer*innen übertragen, nachdem sich dtv die Lizenz und Rechte gesichert hatte und nun auf einen ähnlichen Erfolg wie in den USA hofft.

Obwohl ich keine Angst vor dicken Büchern habe, war ich dennoch gespannt, ob und und wie sich die Gefahr der Länge zwischen 858 Seiten zeigt. Nach 150 Seiten sprang der berühmte Funke bei mir nicht über. Eigentlich wollte ich das Buch aus der Hand legen, da mich die Grundgeschichte dennoch neugierig hielt, habe ich weitergelesen – etwas, was ich ansonsten nicht mache.

Eine fundierte, kurze Inhaltsangabe wiederzugeben, ist bei diesem Umfang nicht einfach, obwohl der Plot sich im Grunde „nur“ um zwei fiktive Frauen dreht:

Marian Graves und ihr Zwillingsbruder, 1914 geboren, werden Waise, nachdem ihr Vater und Kapitän sich selbst und seine beiden Babys vor allen anderen Passagieren von seinem sinkenden Schiff in Sicherheit bringt, bei dessen Untergang auch seine Frau stirbt. Da er seine langjährige Strafe im Gefängnis absitzen muss, wachsen die beiden kleinen Zwillinge Marian und Jamie bei ihrem Onkel in wilder Freiheit und wenig behütet in Missoula, in den Weiten Montanas auf. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis kommt ihr Vater sie dort besuchen, verschwindet aber schnell wieder ohne ein Wort, da er von seinen, ihm fremden Kindern, und seiner neuen Freiheit überfordert ist.

Während Jamie sein Talent als Maler und Künstler entdeckt, repariert Marian schon früh Autos, entdeckt als Kind durch einen Zufall die Leidenschaft zur Fliegerei und will unbedingt Pilotin werden. Dieses Ziel erreicht sie durch einen vermeintlichen Gönner, der ihr zwar die nötigen Flugstunden bezahlt, was sie aber dann mit dem verbotenen Transport von Schmugglerware und einer brutalen und grausamen, herrschaftlichen Ehe bezahlen muss. Es gelingt ihr, daraus auszubrechen und flüchtet nach Alaska, wo sie mit einer neuen Identität untertaucht und als Pilotin ihren kargen Lebensunterhalt verdient. Während des zweiten Weltkrieges gelingt es ihr, ihre Flugkünste weiter auszubauen, indem sie bei der ATA angenommen wird und als Pilotin den Lufttransport mit verschiedenen Maschinen unterstützt. 1950 stirbt sie bei dem gescheiterten Versuch, als Erste die Erde in der Längsachse zu umfliegen. Ihre Leiche wird nie gefunden, wohl aber ihr sorgfältig eingewickeltes Logbuch.

Die andere Figur ist die in der Gegenwart lebende Hadley Baxter, eine glamouröse junge Hollywood-Schauspielerin, die durch zwei Film-Serien sehr schnell zum Star avanciert ist. Aber noch mehr als durch ihre schauspielerischen Qualitäten macht sie mit unzähligen Affären und Bettgeschichten von sich reden. Es kommt, wie es kommen muss, durch eine Sexaffäre verliert sie ihre letzte, große Serien-Rolle und steht erst einmal vor dem Nichts. Doch Lamentieren hat in Hollywood Erfolg und so erhält sie schnell von einem Gönner die Rolle der Marian Graves, deren Leben verfilmt wird. Baxter muss nun versuchen, sich in diese so ganz andere Frau hineinzuversetzen, die vor mehr als 80 Jahren gelebt hat und begibt sich auf die Spurensuche der vermissten Pilotin.

Das sind die beiden Erzählstränge in unterschiedlichen Zeitperspektiven, die parallel laufend in abwechselnden Kapiteln erzählt werden. Obwohl die Autorin die beiden Frauen mit ihren unterschiedlichen Leben verbinden will, gelingt ihr das tatsächlich erst nach vielen Hundert Seiten und erst zum Ende hin. Bis dahin bleibt die Figur der ständig trinkenden und Drogen einnehmenden Hadley Baxter blass, stets mit einer gewissen theatralischen Dramatik umgeben und ihre Passagen haben mich eher genervt, als dass ich sie interessant im Kontext und Kontrast zu der weit umfassenden Lebensgeschichte von Marian Graves empfunden hätte.

Eine erkennbare Entwicklung der Schauspielerin mit ihrer Identitätsfindung auf der Spurensuche zu der Frau und ehemaligen Pilotin, die sie darstellen soll, habe ich nicht erkannt. Vielmehr hat die Autorin diese Figur eigentlich nur für den spannenden Schluss und die, zugegeben, raffinierte Plot-Zusammenführung der beiden Frauen-Charaktere am Ende gebraucht, ansonsten empfand ich Hadley Baxter als (nervendes) Beiwerk und Mittel zum (späteren) Zweck. Ich hatte auch den Eindruck, dass die Autorin diese Figur benutzt, um mit klischeebehafteten Beschreibungen mit dem Filmgeschäft in Hollywood und dem Leben in Los Angeles abzurechnen.

Gefüllt wird die Lebensgeschichte von Marian Graves mit sehr viel Drama und Elementen, die man schon unendlich oft in anderen Romanen gelesen hat, die erfolgsversprechend scheinen: Schiffsunglück, Waisen, die, sich selbst überlassen in wilder Natur aufwachsen, junges Mädchen, das sich durchsetzen muss, Männer, die brutal die Herrschaft über Frauen führen, ein Hauch von weiblicher Emanzipation, Gewalt, Tod, Krieg, Einsamkeit, Leid und Liebe, gewürzt mit amerikanisch-prüden Sexgeschwurbel.

Maggie Shipstead gelingt es dagegen tatsächlich, die zahlreichen und nahezu unübersichtlichen Stränge, die sie auswirft, am Ende logisch zusammenzuführen, doch für mich waren es zu viele, auch, weil sie dadurch oberflächlich gelassen wurden. Hunderte von Seiten liest man nicht nur die dramatische Vita der Fliegerin Marian, sondern auch die nicht weniger von drastischen Entwicklungen ihrer Liebsten: ihres Bruders Jamie, des besten Freundes Caleb und ihrem Onkel Wallace, bei dem sie und Jamie aufgewachsen sind. Dabei wechselt sie schnell die Perspektiven der einzelnen Protagonisten, was auf Dauer und in der Menge der Erzählfäden irgendwann anstrengend ist.

Auch wenn Shipstead natürlich mit ihrem Roman die Pionierinnen der Luftfahrt hervorheben will, ergeht sie sich allzu begeistert en Detail und wiederholend in technischen Beschreibungen sowie von einer Vielzahl unterschiedlicher Flugzeuge, was auf Dauer Längen mit sich bringt und als Nichtkenner*in von Flugzeugtypen letzlich in diesem Umfang uninteressant ist. Stimmig hat die Schriftstellerin dagegen historisch belegte Begebenheiten und Bezüge zu realen Pilotinnen, wie z.B. Jaqueline Cochran oder Amy Mollison, zu der erfundenen Marian Graves eingebettet. In diesem Zusammenhang ist der Autorin zweifellos gelungen, diese Figur so authentisch darzustellen, dass man deren Erfindung oft vergisst. Es gibt hier dennoch ein großes „Aber“, denn die Darlegung Marians Lebensentwicklung ist für mich auf zu viel Drama ausgelegt, was an manchen Stellen aufgesetzt und unrealistisch wirkt. Bis zum Schluss blieb mir diese Frau und ihr Leben, von der Schauspielerin Baxter ganz zu schweigen, auch nach 850 Seiten sehr auf Distanz.

Eine weniger dramatisch-sentimentale Lebensentwicklung der fiktiven Marian Graves, mit weniger Focus auf Nebenfiguren und ständige Schleifen, dafür mehr Tiefe in der Ausarbeitung ihres Charakters – das alles in allem gekürzt, hätte dem Plot gut getan. Sprachlich ist der Roman, trotz mancher prosaischer Einlagen, keine literarische Perle, dafür wirken manche Sätze zu gestelzt übertragen.

Ob diese, zum Ende hin spannende, ausufernde Abenteuergeschichte hierzulande auch eine Vielzahl von Literatur-Preise oder Nominierungen erhält, bleibt abzuwarten, denn weder die literarische noch die sprachliche Qualität sprechen dafür. Außerdem besteht die Gefahr, dass der Leser/die Leserin bei der unübersehbaren Anzahl von Kreiseziehen, Loopings und Wendungen (in der Story) ins Trudeln gerät.

Für die deutsche Ausgabe wurde das sehr schöne und treffende Original-Cover übernommen.

Sabine Wagner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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