Man kann Müttern nicht trauen

Andrea Roedig

dtv, März 2022

240 Seiten, € 20,00

 

 

 

 

Bereits auf den ersten Seiten erlebt man eine Situation zwischen einem kleinen Mädchen Andrea und ihrer Mutter Lore, die so unglaublich wie eindrücklich ist: Im Hotel-Schwimmbad planschen die beiden, als die Mutter ihrer Tochter den Drachen Fips, eines der kleinen Plastiktierchen, die das Mädchen so sehr liebt und mit ihnen so gerne spielt, greift und für immer in den Abfluss des Schwimmbeckens verschwinden lässt.

Eine exemplarische Situation für viele nachfolgende, in der die Mutter ihre sadistischen Züge zeigt und für ihren beiden Kinder, insbesondere für ihre Tochter Andrea, keine Liebe und Nähe, geschweige denn Halt und Sicherheit, geben kann. Andrea Roedig konnte die ihre Kindheit, Jugend und der Zeit bis ins Erwachsenenalter erst nach dem Tod ihrer Mutter schreibend aufarbeiten. Unterstützt wurde sie dabei von einem Tagebuch ihrer Mutter sowie ihren eigenen Tagebüchern und Erinnerungen.                                                       Andreas Mutter Lore, ein 1938 geborenes Kriegskind, wurde mit brutaler Gewalt und verbaler wie handgreiflichen Demütigungen alleine von ihrer Mutter großgezogen. Als sie 1960 Franz-Josef Roedig, den Sohn einer in Düsseldorf bekannten Metzgersfamilie kennenlernt und heiratet, erfüllt sich ihr Traum von Wohlhaben und Luxus. Allerdings gerät sie damit auch in eine starre, konservative Familienkonstellation, obendrein im streng katholischen Rheinland. Der Druck ihres Schwiegervaters auf ihren Mann, das Geschäft ordentlich weiterzuführen, lässt ihn zunächst nur am Wochenende zum Alkohol greifen. Lilo schließt sich diesem Druckablass an, um den Ressentiments der Familie ihres Mannes zu entgehen. Obwohl Andrea wohlhabend aufwächst, ist es für sie und ihren jüngeren Bruder in ihrer Kindheit normal, die Wochenenden überwiegend alleine zu verbringen und mit sich zu beschäftigen, während die Eltern in ihre Sucht flüchten.

Als Andrea zwölf Jahre ist, geht die Metzgerei in Konkurs, die Familie bricht völlig auseinander, die Kinder werden hin- und hergeschoben. Die Großeltern Roedig nehmen nach Druck von außen nur ihren Sohn und die beiden Kinder auf, für Lore ist kein Platz. Sie verlässt ihre Familie, zieht weit weg und findet neue Partner, mit denen sie in abhängigen, unglücklichen Konstellationen lebt. Andrea kommt auf ein Internat der Ursulinen in Bad Münstereifel und verbringt die Wochenenden bei ihrer Großmutter Adler mütterlicherseits. An diesen Tagen erlebt die Heranwachsende die dominierende Gängelei und Demütigungen, unter der auch ihre Mutter zu leiden hatte.

Nach drei Jahren gibt es den ersten Kontakt der Kinder mit Lore, doch die zeitliche und persönliche Distanz, ihre Unnahbarkeit machen einen Neuanfang für Lore und ihre Kinder unmöglich. Die Autorin beschreibt schon fast nüchtern die bemühten Versuche der Annäherung zu ihrer Mutter, der Begegnungen in den nächsten Jahrzehnten mit immer neuen Lebensstationen der Kinder und von Lore. Diese Treffen, die zeitlich oft weit auseinander liegen, bringen Mutter und Kinder nicht zusammen und scheitern alle kläglich aus verschiedenen Gründen, aber insbesondere durch die Unnahbarkeit und Lieblosigkeit der Mutter. Dennoch reflektiert die Autorin dabei die Frage, was ihr Anteil an dieser bleibenden Distanz gewesen ist. Andrea Roedig versucht, das manchmal widersprüchliche Verhalten und den Charakter von Lore zu verstehen, was tatsächlich oft nicht zu verstehen ist. Die emotionale Distanz von Lore, die fehlende mütterliche Liebe, das nicht weitergegebene Urvertrauen an sein Kind bilden den roten Faden in der Lebensgeschichte über Andrea Roedigs Mutter und der Familie.

Diesen Verlust verarbeitet die Autorin, Publizistin und promovierte Philosophin in einer klaren, direkten Sprache, die nichts beschönigt und hin und wieder hatte ich das Gefühl von Wut, Ohnmacht und auch nachvollziehbarer Abrechnung zwischen diesen Zeilen über das Erlebte zu lesen.

Befremdet wirkt allerdings die Stelle, als Andrea Roedig erklärt, dass ihre Homosexualität nicht nur eine Form des Begehrens ist, sondern für sie persönlich eine „Form des Widerstands ist, und die Weigerung, eine Familie zu gründen“.

Das Buch ist eine bewegende und intensive Aufarbeitung einer komplizierten, aufwühlenden Mutter-Tochter-Beziehung und es scheint wie eine psychologisch-therapeutisch schreibende Befreiung für die Autorin zu sein, diese niedergeschrieben zu haben. Und obwohl Andrea Roedig heute als promovierte Philosophin und Journalistin in ihrer Arbeit angekommen ist, wird die Sehnsucht nach der für allgemein selbstverständlich gehaltener, aber hier nicht erfüllter Mutterliebe immer eine Leerstelle in ihrem Leben bleiben.

(Auszug aus dem Buch, Seite 177)

Ich habe verschiedene Therapien gemacht im Lauf der Zeit, um aufzuarbeiten, zu erinnern, so lange, bis ich dachte: Es reicht, ich will nicht mehr reden. Nach und nach, so kommt es mir vor, wird die Geschichte vom „Verlust der Mutter“ zu einem Klischee. Alles scheint glatt erzählt wie ein lebloser Kiesel, der sich gut in der Tasche tragen lässt. Sehnsucht kann mich wie aus dem Nichts überkommen, etwa wenn ich durch die Wartehalle eines Flughafens gehe und plötzlich dieser heiße Satz aus mir herausschwemmt: „Ich will meine Mutter wiederhaben.“ Das ist eindeutig und echt. Dann geht es vorbei, und ich spüre wieder nichts.

Das weiße Cover mit dem vergilbten Kindheitsfoto und eindeutigen Titel ergeben eine Symbiose von passender Distanz.

Sabine Wagner

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