Julia Franck
S. Fischer, 13.10.2021
368 Seiten, € 23,00
Nachdem Julia Franck 2007 den Deutschen Buchpreis mit dem großartigen Roman „Die Mittagsfrau“ erhielt, folgte 2011 ebenfalls erfolgreich „Rücken an Rücken“. Dann wurde es, was literarische Veröffentlichungen angeht, still um die Schriftstellerin. Nach zehn Jahren präsentierte Julia Franck im Oktober 2021 ihr aktuelles Buch „Welten auseinander“ im S. Fischer Verlag. Wie die Autorin selber betont, ist es kein Roman, sondern ihre autobiographische Geschichte.
Ihre Erinnerungen beginnen und enden sehr zart und liebevoll an ihre große Liebe Stephan, mit dem sie nur eine kurze Zeit zusammenleben durfte, da sie ihn durch einen tragischen Unfalltod noch am Anfang ihrer gemeinsamen Leben verlor. Am Schluss des Buches scheint es, als habe sie ihre bisherige Lebensgeschichte für ihn aufgeschrieben.
In einem großen Bogen erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend, die sie unter unglaublich belastenden, chaotischen Umständen wie Zuständen erlebt hat. Als Enkelin der in der DDR sehr bekannten Bildhauerin Ingeborg Hunzinger und Ururenkelin des Malers Philipp Franck lebt sie mit ihrer Mutter, die Schauspielerin war, in einem Haushalt auf, in denen Künstler ein- und ausgingen. Mit acht Jahren reist Julia mit ihrer Mutter, Zwillingsschwester, der acht Jahren älteren Schwester sowie der jüngsten Schwester und Nesthäkchen von Ost- nach West-Berlin, wo sie von Oktober 1978 bis Sommer 1970 im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde lebt, bevor sie in einem heruntergekommenen Bauernhaus in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein eine Unterkunft finden. Dort erlebt Julia eine verwahrloste Kindheit, in der sie sich mit ihrer Zwillingsschwester um sich selbst und um die jüngste Schwester kümmern muss. Die ältere Schwester unterstützt ebenfalls, übernimmt aber im Laufe der Zeit immer mehr einen herrischen, herabsetzenden Kommandoton. Die Mutter ist selten anwesend, kümmert sich um sich und lässt ihre drei Kinder in völliger Freiheit sich selbst überlassen. Ihr Heranwachsen ist von vielen Umzügen geprägt, von großer Scham darüber, wie es zuhause aussieht und in welchem Zustand, mit welchen Klamotten sie in die Schule geht – und Einsamkeit. Mit 13 Jahren erkennt Julia, dass sie so nicht länger leben kann und will erkämpft sich den Umzug nach West-Berlin zu Bekannten ihrer Mutter, um dort weiter zur Schule zu gehen, Abitur zu machen und später zu studieren. Aber auch dort ist sie auf sich alleine gestellt und muss viele Jobs neben der Schule machen, um sich zu finanzieren. Trotz einem schlechten Gewissen ihrer Zwillingsschwester gegenüber ist Julia froh, endlich den verwilderten, chaotischen Umständen mit ihren Geschwistern entflohen zu sein.
Obwohl ihre Mutter und Großmutter als durchaus starke, eigenwillige Frauen, Julia und ihre Geschwister umgeben, ist keine davon in der Lage, den Kindern und Enkeln ein behütetes, fürsorgliches Aufwachsen zu schenken.
Julia Franck flüchtet sich früh mit dem Schreiben von Tagebüchern in eine eigene Welt. Diese vielen erhaltenen Tagebücher haben eine bedeutende Rolle in dieser Biographie, wie auch die Tagebücher ihrer Großmutter, denn sie stützen Julia Francks Gedächtnis beim Aufschreiben ihrer Erinnerungen. Das Schreiben ist ihr Beziehungsanker und hilft ihr, das chaotische Leben um sie herum zu sortieren, ein Stück weit zu verdrängen – und zu überleben.
Beeindruckend ist es der Schriftstellerin gelungen, ihren Lebensweg mit ihrer Mutter, Großeltern und das Verhalten ihrer Geschwister unbeschönigt widerzuspiegeln, ohne anzuklagen. Stattdessen versucht sie ihre Vergangenheit und dadurch erlittene Traumata zu verstehen, nachzuvollziehen. Julia Franck präsentiert eine feinfühlig beleuchtete psychologische Auseinandersetzung ihrer Familienaufstellung in einer bewegenden Biographie. Sie erzählt in einer ausdrucksstarken Sprache von tiefer Unsicherheit, Rastlosigkeit und Unruhe, der Suche nach Identität und Zugehörigkeit, die sie für eine kurze Zeit gefunden hatte und dann wieder verlor. Nach den traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend, der belasteten Sozialisierung zwischen Ost- und Westdeutschland und dem furchtbaren frühen Verlust ihrer großen Liebe zeigt Julia Franck, dass sie eine starke Frau ist, denn sie kämpft sich wieder mit viel Liebe und Empathie für sich und andere zum (Über-)Leben zurück. Obwohl der erzählte Lebensweg melancholisch-traurig ist, macht er aber auch deutlich, dass man mit viel Willen, Mut und Kraft seinen eigenen Weg und seine eigene Identität finden kann.
Kein Roman, aber trotzdem großartige Literatur.
Sabine Wagner