Fatma Aydemir
Carl Hanser, 14.02.2022
368 Seiten, € 24,00
Nominiert auf der Longlist und Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022
Fatma Aydemir ist in den neunziger Jahren in Deutschland aufgewachsen und kennt daher die bis heute von einigen sogenannten „Bio-Deutschen“, geäußerten, unreflektierten Vorurteilen, dass Türken, respektive Ausländer, faul sind und den Deutschen die Arbeit wegnehmen.
Es ist 1999, Hüseyin lebt seit dreißig Jahren in Deutschland und hat hart in einer Metall- und später in einer Pappkartonfabrik gearbeitet. Er hat sich, seiner Frau und den vier gemeinsamen Kindern nichts gegönnt in all den Jahren und alles gespart. Jetzt hat er in Istanbul sich seinen Traum für den Lebensabend erfüllt und eine eigene Wohnung komplett neu eingerichtet. Mit all dem, was er sich und seine Frau immer gewünscht haben. Sein größter Wunsch wäre es, wenn auch die zum Teil erwachsenen Kinder dauerhaft nach Istanbul zögen und sie dort gemeinsam leben. Hüseyin hat die Einrichtung der neuen Wohnung überwacht und wartet nun darauf, dass er seiner, zu Besuch kommenden Familie alles präsentieren kann. Doch dazu wird es nicht kommen, denn Hüseyin erleidet einen Herzinfarkt und stirbt im Flur seines Lebenstraums. Der Tradition zur Folge reisen nun alle Familienmitglieder aus Deutschland nach Istanbul, denn nach türkischem Brauch muss der Leichnam spätestens einen Tag nach seinem Tod beerdigt werden, was dazu führt, dass die verschiedenen Familienmitglieder überhastet und aus ihrem Alltag herausgerissen nach Istanbul reisen müssen. Ein Ort, der für die meisten von ihnen nur von kurzen Urlauben oder auch gar nicht bekannt ist.
Im ersten Kapitel spricht die Autorin Hysein in der ersten Erzählperspektive direkt an und wiederholt diese Form im letzten Kapitel mit Emine, der Ehefrau, was mit dieser „Du“-Ansprache bei mir zu einer deutlichen Distanz zu diesen beiden Personen führte. Die Familiengeschichte baut sich darüber hinaus durch die Erzählungen der vier Kinder aus ihrer persönlichen Sichtweise auf.
Da ist der fünfzehnjährige Ümit, der in Istanbul seine Mutter zum ersten Mal kurdisch sprechen hört und bis dahin nicht wusste, dass sie Kurdin ist. Nachdem Ümit entdeckt hat, dass er schwul ist und ein ziemlich verunglücktes Outing zu einem Jungen hatte, wird er von seinem Fußballtrainer zu einem dubiosen Psychotherapeuten geschickt, der mit schrägen Gesprächen und Übungen versucht, ihn von seiner Homosexualität zu bekehren.
Sveda, die älteste Tochter, die alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern eine Pizzeria erfolgreich übernommen hat und mit viel fleißiger Arbeit unabhängig ist. Sie wurde erst kurz vor dem Militärputsch 1980 von ihren Eltern nach Deutschland geholt, da sie von ihnen die Verpflichtung auferlegt bekommen hatte, ihre Großeltern in einem kleinen Dorf zu unterstützen. Während ihre Eltern und Geschwister sich längst in Deutschland eingelebt haben, fällt es ihr am Anfang schwer, sich einzufinden. Nicht besser wird es durch eine von den Eltern zusammengeführt Heirat mit Ishan, einem ihr bis dahin unbekannten türkischen Landsmann. Die beiden gemeinsamen Kinder Cem und Bahar vervollkommnen demnach nicht das Familienglück, sondern führen zu einem noch tieferen Graben zwischen Sveda und Ishan und ihren sehr unterschiedlichen Wertevorstellungen eines gemeinsamen Lebens in Deutschland. Die Tatsache, dass Sveda den Namen des Erstgeborenen, aber kurz nach der Geburt verstorbenen Kindes trägt, begleitet sie wie einen dunklen Schatten. Nach einem einschneidenden Erlebnis bricht sie den Kontakt zu ihren Eltern ab und trifft erst anlässlich der Beerdigung wieder auf die Familie. Am Ende des Buches erfährt sie von ihrer Mutter das Familiengeheimnis um ihren Vornamen.
Peri, die jüngere Schwester hat in Deutschland Abitur gemacht, studiert in Frankfurt Germanistik und ihre Eltern sind sehr stolz auf sie. Doch Peri ist die rebellierendste in ihrer Familie und hin- und hergerissen zwischen der türkischen und deutschen Kultur. Sie gerät immer wieder in Streitgesprächen mit ihrer Mutter, in denen sie ihre Mutter zu mehr Unabhängigkeit bewegt, aber von ihr nur Unverständnis erhält.
Ihr Bruder Hakan ist, wie Peri, von klein auf in Deutschland aufgewachsen, hat nie den Ansprüchen Hüseyins entsprochen und will auf keinen Fall so hart arbeiten, wie sein Vater es getan hat. Sein Plan ist es, mit dem, was ihm Spaß und wenig Mühe macht, viel Geld zu verdienen, was ihn, nicht überraschend, auch in halbseidene Geschäfte verwickelt lässt. Er hetzt mit seinem Alfa Romeo über die Straßen von Deutschland über die verschiedenen Länder und Grenzen in die Türkei und wird dabei von der bayerischen Polizei angehalten.
Fatma Aydemir setzt mit den einzelnen erzählenden Figuren und der ungewöhnlichen Mischung aus Kammerspiel und Roadtrip ein intensives Familienbild über eine türkische Familie zusammen. Damit fächert sie die ganz unterschiedliche Ansichten über türkische Tradition und deutscher Lebensführung auf und der Problematik der seit verschiedenen Generation hier lebenden Türken eine zufriedene Schnittmenge zu finden, was unmöglich scheint. Die Familiengeschichte aus den verschiedenen Sichtweisen und Erinnerungen erzählt von Trauer, Sehnsüchten der Alten wie Jungen, von Enttäuschungen, nicht erfüllten Erwartungen von Eltern an ihre Kinder wie umgekehrt.
Während die Autorin ihre weiblichen Figuren intensiv und mit Tiefe sprechen lässt, bleiben die beiden Söhne Ümit und Hakan zum Teil sehr oberflächlich. Bei Hakan hatte ich zeitweise das Gefühl, dass hier ein plattes Klischee ausgewalzt wird und es hätte mich nicht gewundert, wenn an der ein oder anderen Stelle eine allzu flache Attitüde türkisch-deutscher Sprechweise geäußert worden wäre, auf die dann erfreulicherweise verzichtet wurde. In diesem Zusammenhang wird auch das Miteinander der Bio-Deutschen mit gängigen Vorurteilen gegenüber Türken gespiegelt, durchaus polarisierend, aber auch gelungene Integration.
Die Sprachlosigkeit in Familien, die nationenübergreifend auch in dieser türkischen Familie dominiert, ist ein weiterer zentraler Punkt. Eine Sprachlosigkeit, die sich hier aus verschiedenen Gründen erklärt. Hüseyin und Emine sind Kurden und Hüseyin hat nach seinen Erfahrungen beim Militär gelernt, dass es besser ist, nur türkisch zu reden und seiner Frau daher verboten kurdisch zu sprechen. Ein Verrat an die eigene Herkunft, Sprache und der Identität, der Emine immer mit einer Distanz zu ihrem Mann leben ließ und sie über die Jahre hinweg krank machte.
Fatma Aydemir ist mit ihrem zweiten Roman nach „Ellbogen“ ein weiterer, durchaus polarisierender deutsch-türkischer Familienroman gelungen, der mich allerdings nicht so sehr wie „Ellbogen“ überzeugen konnte. „Dschinns“ (wobei das Wort „Dschinn“ bewusst mit einem fehlerhaften Plural verwandt wird) beschreibt vor allem die Aspekte Tod und Trauer mit Einfühlung und überzeugt mit erzählerischer Intensität und Dichte bei den weiblichen Figuren.
Ihr 2017 bei Carl Hanser Verlag erschiener Debütroman „Ellbogen“ hat mich allerdings mehr überzeugt.
Sabine Wagner