Susan Kreller
Carlsen Verlag, 29.09.2022
192 Seiten, € 15,00
ab 12 Jahren
„Hanna beginnt im Regen.“ Das ist der erste Satz im neuen Roman von Susan Kreller, der im besten Sinne nicht nur an Jugendliche gerichtet ist, sondern sogenannt „all-age“ auch Erwachsene begeistert.
Neben Hanna geht Josefin, die sich vor den unendlichen Versionen, wie Regen auf die beiden fallen kann, davor schützt, während Hanna stets ungeschützt, aber so gewollt, triefend nass wird. Triefend nass kommt daher Hanna Kiesow als Neuzugang in Josefins Klasse und wird in diesem Zustand von der Klassenlehrerin Frau Mattai mit den Worten „ich verlass mich auf Dich“, neben Josefin gesetzt. Josefin ist ein Mädchen, auf die man sich verlassen kann, die aber auch im Klassengefüge nicht auffällt, eine introvertierte Einzelgängerin ist und keine Freund*innen hat, worüber sie traurig ist. Als Hanna nun aufgeweicht neben ihr sitzt, bettet diese ihren Kopf auf ein Buch mit dem Titel „Gotische Kirchen“ und schläft ein. Josefin stellt schnell fest, dass irgendetwas mit Hanna nicht stimmt. Als sie sich bei einem Abendessen mit ihrer Familie darüber unterhält, bestätigt ihre Mutter diesen Eindruck, denn Hannas Mutter ist eine neue Kollegin in ihrer Firma Future Technology Inc. und auch sie wird aus ihr nicht schlau. Da Josefins Mutter eine leidenschaftliche Hobby-Kriminalistin ist, hat sie schnell einen Verdacht über die Familie Kiesow und eine Vermutung, warum sich Hanna und ihre Mutter so seltsam benehmen: Weil die Familie ein Verbrechen gesehen haben oder von der Mafia verfolgt werden, bekommen sie Schutz vom BKA und stehen unter einem Zeugenschutzprogramm. Während Josefin die Version der Tarnidentität ihrer Mutter lächerlich findet, ist diese davon fest überzeugt.
Als Josefin Hanna zu einem, in der Familie gefürchteten, „internationalen Abendessen“ einlädt, die Josefins Mutter leidenschaftlich, aber ohne jedes Talent zum Kochen als „internationale Wochen“ initiiert hat, damit die Familie damit die Welt kennenlernt, und Hanna sich nach dem Genuss von Ribel mit heißen Kirschen mit einem explodierenden Ausspucken dafür bedankt, ist sie von der ganzen Familie herzlich aufgenommen. Bei Josefins Vater hatte sie schon vorher ein Stein im Brett, da es ihr bisher als Einzige gelungen ist, auf die verrückt-schrägen Meldungen ihres Vaters bei einem Anruf am Festnetz-Telefon, schlagfertig und trocken zu reagieren.
Josefin und Hanna freunden sich sehr langsam und vor allem schweigsam an, was vor allem an Josefins Geduld liegt und die Hanna „sein lässt“. Doch als Hanna plötzlich nicht mehr in der Schule erscheint und Josefin sich bei ihren Eltern nach ihr erkundigen will, wird sie mit einem sonderbaren Verhalten sehr brüsk abgewiesen. Irgendetwas scheint tatsächlich mit dieser Familie nicht zu stimmen und durch einen Zufall entdeckt Josefin den Grund, der ihre Freundschaft nicht auseinanderbringt, sondern durch eine gemeinsame Stille noch verbundener macht.
Susan Kreller beweist mit ihrem neuen Roman einmal mehr ihr facettenreiches schriftstellerisches Talent. Vier Mal wurde sie bereits für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hat ihn 2015 für ihren Roman „Schneeriese“ erhalten. Sensibles Einfühlungsvermögen und Humor verbindet sie mit vielen kleinen Puzzlesteinen zu einer sehr spannenden wie melancholischen Geschichte über zwei unterschiedliche Jugendliche, die beide auf ihre Weise ungewollt Außenseiterin sind. Aus unterschiedlichen Gründen haben Hanna wie Josefin schmerzhafte Erfahrungen gemacht, durch die sie zu Außenseiterinnen wurden. Beide kämpfen um Gesehen werden, selbst in der eigenen Familie. Beide sind, jede auf ihre Weise, auf der Suche nach Freundschaft, Ankommen und Ruhe, was die Autorin hervorragend herausgearbeitet hat.
Die scheinbar unendlichen Varianten, wie Regen auf die Erde fallen kann und Hannas Buch „Gotische Kirchen“, das sie immer bei sich hat, sind die beiden Leitmotive, die bis zum Ende durch das Buch führen. Es sind auch wunderschöne Kleinigkeiten, die diese Geschichte besonders machen, wie die herrlich schrägen Eltern von Josefin, die nur ein Festnetztelefon haben, der Vater, der Zopfpullover liebt und sich stets mit einer verrückten Ansage am Festnetztelefon meldet oder die Mutter mit ihren überzeugten kriminologischen Vorhersagen aus skandinavischen TV-Krimis und ihren, dank nicht vorhanden Kochkünsten, kulinarisch verwegenen „internationalen Wochen“. Oder die leicht kauzige, dennoch offene und warmherzige Großmutter. Trotz der Skurrilität der verschiedenen Personen, überzieht Susan Kreller an keiner Stelle den Bogen. Es gelingt ihr mit ihrem einzigartigen prosaischen, sprachgewaltigen Ton und bilderstarken Beschreibungen die Gefühlswelt sonderbarer Charaktere und gleichsame Situationen mit feinem Humor klug zu verbinden. Obwohl es in der Geschichte Bezüge zu (aktuellen) Songs von Billie Eilish und Andrea Berg gibt, bleibt sie im Ganzen zeitlos – wie die Achterbahn der Gefühle und das Ringen um die Identität von Jugendlichen. Der Leser/die Leserin erfährt vergleichbar mit einem zarten Sprühregen, warum Hanna Regen in seiner Vielfalt liebt, sie so unnahbar und ihre Eltern so merkwürdig sind und welches Geheimnis über dieser Familie liegt. Die Auflösung (durch Josefin herbeiführt) wirkt etwas konstruiert, was aber verzeihbar ist.
„Und so wie Hanna im Regen beginnt hört sie auch im Regen wieder auf, später, nicht jetzt, kein Grund zur Eile“.
Susan Kreller zeigt auch mit ihrem neuen, entschleunigenden, nachdenklich machenden Roman, dass sie mit einer gleichbleibenden hohen Qualität und ihrer ganz eigenen, prosaisch-wortgewandten Stimme zu einer der größten deutschen Jugendbuchautor*innen gehört, deren Bücher auch Erwachsene in den Bann ziehen.
Ein rundum stimmiges Cover rundet das Buch ab.
Sabine Wagner
