Aufruhr der Meerestiere

Marie Gamillscheg

Luchterhand, März 2022

304 Seiten, € 22,00

Nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022

 

 

 

Luise, Mitte dreißig, ist eine ausgezeichnete wie ehrgeizige Wissenschaftlerin auf dem Forschungsgebiet der Meerwalnuss, eine Rippenqualle, die sich in den Meeren stetig verbreitet mit weitreichenden Konsequenzen. Ihr nächstes Projekt führt sie in ihre Heimatstadt Graz zu dem Tierpark, dessen Leiter Doktor Schilling sie von Tiersendungen im Fernsehen aus ihren Kindertagen kennt. Schilling`s Tierreportagen ließen vor vielen Jahren bei Luise den Wunsch wachsen, dass ihr Beruf unbedingt mit Tieren in Verbindung stehen muss.

Luise reist nach Graz, einerseits freudig und gespannt, das Idol ihrer Kindheitstagen heute mit eigenen Forschungsarbeiten und einem gemeinsamen Projekt kennenzulernen, andererseits auch angespannt, da sie nach langer Zeit in in diese Stadt zurückkehrt, mit der sie mehr negative als positive Erinnerungen verbindet. Sie kommt in der Wohnung ihres Vaters unter, der zur gleichen Zeit nach einem zweiten Herzinfarkt bei ihrem Bruder in Nürnberg lebt, der sich um ihn und weitere Untersuchungen kümmert. Luise wusste von alldem nichts, wähnt ihren Vater in Wien auf einer Konferenz und erfährt mehr durch Zufall von ihrem Bruder davon, als sie sich bereits in seiner Wohnung eingerichtet hat.

Die Leere in der Wohnung ihres Vaters lässt Luise auf ihr Aufwachsen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder und das Verhältnis zu ihm und den Eltern zurückblicken. Sie erinnert sich an Erlebnisse aus dieser Zeit, an das Beobachten, Messen und Vergleichen ihrer Eltern gegenüber ihrem älteren Bruder, den sie ihrem Empfinden nach nie erreichte und einholte, an das ambivalente und schon immer angespannte Verhältnis zu ihrem Vater. Ihren auf Abstand haltenden Freund Juri teilt sie aus Graz nebenbei und kurz mit, dass sie sich jetzt erst einmal nicht sehen werden. Während sie mit ihren intensiven Forschungsarbeiten Doktor Schilling und seine Mitarbeiter*innen aus dem Tierpark näher kennenlernt, gibt es nach langer Zeit ein Wiedersehen mit ihrer Mutter und ihrem aktuellen Lebensgefährten. Ein Treffen, dass ihr einmal mehr zeigt, wie groß auch der Abstand zu ihr ist und sie sich kaum noch etwas zu sagen haben. 

Luise wird während ihrer Zeit in Graz schmerzhaft bewusst, wie tief die Sprachlosigkeit (nicht nur) zu ihrem Vater in all den letzten Jahren, Jahrzehnten und wie fremd sie sich, aber auch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder geworden ist. Als sie zufällig einer Freundin aus Jugendtagen begegnet, mit der sie schon eine Ewigkeit keinen Kontakt mehr hat, erkennt Luise, wie andere Lebensläufe sich entwickelt haben. Ihre schon lang begleitende Essstörung begegnet ihr in der Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart einmal mehr.

Marie Gamillscheg bildet die Verstörtheit und innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin Luise, die mir bis zum Ende des Buches fremd blieb, in einer reduzierten Sprache ab, die sich an einigen Stellen mit feiner Prosa abhebt und im Dialog auf jede wörtliche Rede verzichtet. Ein stets melancholischer Unterton begleitet die Erzählung, den ich im Laufe der Buches nervig und anstrengend empfand, da er sich für mich aufgesetzt und bemüht in die Sprachlosigkeit der Protagonistin hineinschraubte. Luises hervorgeholte Erinnerungen beschreiben ihre Beziehungsunfähigkeit, die Sprachlosigkeit mit ihrer Familie und ihre schon lang begleitende Essstörung. Ob diese aus dem jahrelangen Vergleich ihrer Eltern mit ihrem Bruder entstanden ist oder durch einen nebulös beschriebenen sexuellen Übergriff in ihrer Jugend herrührt, bleibt unbekannt. Diese unklare Szene in der Mitte des Buches beschreibt die Autorin in einer verkappten Sprache, die offen lässt, ob ihr Vater das angetan hat oder die Erinnerung des sexuellen Übergriffs ihrer Phantasie entsprungen ist. Ab dieser, für mich dramatisch aufgesetzten Leerstelle, entfremdete sich mir die Figur Luise und ihre Geschichte immer mehr. Auch wenn man viel interssantes über die mir bis dato weitgehend unbekannten Meerwalnuss erfährt, kommt Luise gerade auch hier mit ihren Forschungsergebnissen nicht weiter. Insofern ist hier der Kontext der stummen Qualle zu Luises Sprachlosig- und Beziehungsunfähigkeit (nicht nur) zu ihrer Familie gelungen.

Was mich am Ende des Buches neben der nicht überzeugenden Sprache enttäuscht hat, war das mäandern von Luises Erinnerungen aus ihrem Familiengefüge, die Unsicherheiten, Zerrissenheit zeigen, aber an keiner Stelle eine kritische Selbst-Reflexion ihrer eigenen Sprachlosigkeit und den Ansatz einer Auseinandersetzung damit. Je tiefer ich in ihre, für mich irgendwann nervige Suche nach irgendwas eintauchte, desto distanzierter und unverständlicher wurde sie mir. Ein ganz zarter, unklarer Hoffnungsschimmer am Schluss lässt eine Annäherung mit ihrem Vater offen, was nur konsequent ist.

Die junge, 1992 in Graz geborene Autorin Marie Gamillscheg bemüht sich, eine illuminierende Qualle in den Kontext zu Sprachlosigkeit und Fremdheit in menschlichen Beziehungen zu bringen, wobei für mich die Meerwalnuss am Ende heller leuchtete als Luise.

Sabine Wagner

Dieser Beitrag wurde unter Autoren, Autoren F - K veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentare sind geschlossen.