Michaela Kastel
Emons Verlag, Mai 2022
352 Seiten, € 22,00
Wenn irgendwo die Bergwelt in einem Roman zum Thema gemacht wird, werde ich hellhörig und neugierig, da zu erkletternde Gipfel zu meinen Sehnsuchtsorten gehören. Zwar laufen solche Geschichten auch immer der Gefahr, in die Atmosphäre eines kitschigen Groschen-Heimatromans abzurutschen, doch der vollmundige Klappentext versprach eine dem Abgrund nahe Story, die eindringlich, emotional und düster über Verlust, Schuld und Hoffnung erzählt. Das ist doch was.
Caro, Mitte zwanzig, fährt mit ihrem 15-jährigen, pubertierenden Bruder Ben in die Alpen in das kleine Dorf Schirau. Vor vier Jahren haben die beiden durch einen Verkehrsunfall ihre Eltern verloren, seitdem kümmert sich Caro um ihren Bruder. Als vor einem halben Jahr am 09. August Caros Verlobter Alex am Himmelssprung, einer sehr gefährlichen, breiten Spalte an der Südwand der 4.187 Meter hohen Schirauer Sonnwende tödlich verunglückte, zerbrach einmal mehr die Welt von Caro.
Da sie den Tod nicht akzeptieren kann und es ihr nur schwer gelingt, ihrem Leben wieder Sinn zu geben, fährt sie mit Ben im dicksten Winter nach Schirau, um sich den Berg anzusehen, der Alex das Leben gekostet hat. Sie will mehr über die vergebliche Rettung erfahren, an dem der dort lebende Extrembergsteiger Samuel Winterscheidt maßgeblich beteiligt war. Caro hat nie die Leidenschaft und Faszination ihres Verlobten zum Klettern geteilt, obwohl er immer wieder versuchte, sie dafür zu begeistern und es irgendwann aufgab.
Samuel Winterscheidt ist ein von Ehrgeiz zerfressener, eklig-herrischer Tyrann, der zuhause alles reparieren muss, was defekt ist. Er ist effizient, macht nie Fehler und lässt sich von niemanden etwas vorschreiben. Samuel behauptet, er klettert nicht, um im Rampenlicht zu stehen, sondern für „Freiheit, Erlösung und Frieden“. Als Kind wurde er von einem Wolf verfolgt und ist bei dem Versuch, sich auf einem zugefrorenen See zu retten, darauf eingebrochen und fast ertrunken. Seitdem spürt er keine Kälte mehr und ist laut seines Bruders Oliver auch wesensverändert.
Oliver steht seit seiner Kindheit im Schatten von Samuel, wurde immer von seinem, inzwischen verstorbenen Vater offensichtlich benachteiligt behandelt, nicht gesehen und herabgesetzt. Die Mutter der beiden lebt schon lange nicht mehr, da sie schon früh an Krebs verstorben ist. Während Samuel und der Vater begeisterte Kletterer waren, zog Oliver nur mit mäßiger Begeisterung mit.
Jana ist die gemeinsame Freundin der beiden seit Kindertagen. Sie ist in Samuel schwer verliebt, der in ihr aber nur eine gute Freundin sieht, während Oliver sich in Jana verliebt hat, die in ihn wiederum nur einen guten Freund sieht. Als Oliver eines Tages einen schweren Unfall hat, der ihn seitdem gelähmt an den Rollstuhl fesselt, opfert sich Jana als seine Betreuerin auf, da sie so zumindest in der Nähe von Samuel sei kann, der sie weiterhin kaum beachtet.
In diese atemberaubende Dreiecksbeziehung trudeln nun auch noch Caro und Ben mit vielen Fragen zu dem Bergunglück von Alex ein, womit sie natürlich den weltbesten und nur schwer zu ertragenden Extrembergsteiger Samuel nerven, der auch alles erst einmal abblockt. Damit aber der Love Interest funktioniert und in Fahrt kommt, gibt es natürlich eine Wendung und Caro und Samuel nähern sich wunderbarerweise an – und verlieben sich. Dabei gibt es dann gefühlige Sätze wie beispielsweise von Samuel auf Seite 245: „Nun ist jemand in meine Spur eingebogen. Ich hätte ausweichen sollen, aber wir sind mitten auf der Straße kollidiert. Jetzt weiß ich nicht mehr, in welche Richtung ich unterwegs war, und drehe mich hilflos im Kreis.“ Oder mehr in Richtung Liebesblues von Caro auf Seite 285: „Die Wahrheit ist: Schöne Dinge enden niemals gut.“ Als Gegennote wird dann aber an anderer Stelle von Jana (S. 273) ein Junge „am liebsten zu Brei geschlagen.“
Die kitschig-blümerante oder umgangssprachlich manchmal seicht-derbe Sprache wäre noch irgendwie auszuhalten, gäbe es in der vorhersehbaren, konstruierten Story nicht so auffallend viele inhaltliche Ungereimtheiten. Hier einige Beispiele dafür:
Caro begibt sich also nach Schirau, um sich den Berg anzusehen, an dem ihr Verlobter sein Leben verloren hat. Auch, um über den detaillierten Bericht der Bergwacht hinaus herauszufinden, wie Alex gestorben ist. Auf Seite 36 kann sie jedoch mit dem Namen Samuel Winterscheidt, der Mann, der bei der Rettungsaktion ihres Verlobten hauptsächlich beteiligt war, nichts anfangen: „Ich gebe zu, bei dem Namen klingelt etwas, mehr aber auch nicht. Ratlos schüttele ich den Kopf.“ Wie ein wenig später zu lesen ist, weiß sie aber sehr genau, dass Samuel Winterscheidt an Alex Rettungsaktion beteiligt war (Seite 141 „Das weiß ich alles. Bitte erzählen Sie mir, was sie gesehen haben.“ und Seite 144 „Das ist nichts anderes, als ich im Bericht gelesen habe“). – Wie kann sie den Namen des Mannes nicht mehr auf dem Schirm haben, der versucht hat, ihren Verlobten zu retten? Aus dem Grund, von ihm mehr zu erfahren, ist sie doch nach Schirau gefahren.
Samuel Winterscheidt wird als narzisstischer Despot beschrieben, der respektlos, widerwärtig und in einem Grenzen überschreitenden Verhalten mit seinen Hausangestellten und Familienmitgliedern umgeht. Er hasst es, dass die Einfahrt zum Haus nicht gut genug vom Schnee geräumt ist, (Seite 16) und herrscht einen jungen Hausdiener an, mit der Schneefräse die Einfahrt ums Haus weiter und besser frei zu räumen. (Seite 21) Als Caro und Ben bei dem Extrembergsteiger abends zum Essen eingeladen sind, sind aber „Einfahrt und Parkplatz kaum geräumt, sodass es schwierig ist, für den Clio ein geeignetes Plätzchen zu finden.“ (Seite 113) Der Wagen muss am Wegesrand geparkt werden. Ist das logisch?
Die Dreiecks-Liebesgeschichte, die aus der Sicht der einzelnen Figuren auch in verschiedenen Zeitebenen erzählt wird, vollendet sich mit Caro zum dramatischen Quartett, in der sich Jana von der verständnisvollen, besonnenen jungen Frau zur eifersüchtigen Furie verwandelt. Der böse Wolf, den Samuel seit der Kindheit bis heute verfolgt, findet natürlich auch sein böses Ende und wird von einem gewagt konstruierten Ende erlöst. Nur Oliver, Samuels Bruder, bringt eine unvorhergesehene Wendung in der, ab einem bestimmten Moment vorhersehbaren Handlung, bei der das Ende letzlich doch ein wenig überrascht.
Irgendwie emotional und düster war die Geschichte mit ihren oberflächlichen schwarz-weiß-Charakteren, von eindringlich und packend jedoch weit entfernt. Dem Abgrund so nah war das Buch aber wegen zahlreicher Ungereimtheiten, sowie der gewagt- konstruierten Story und einer seichten Sprache. Das alles hätte durch ein aufmerksameres Lektorat vermieden werden können oder müssen. Schade, dass diese Vorfreude auf einen spannenden Roman zwischen Bergen und Gipfel zur felsigen Schmonzette wurde.
Das Cover zumindest fällt ins Auge und ist stimmig zum Thema.
Sabine Wagner