Christian Duda
Beltz & Gelberg, Juli 2022
196 Seiten, € 18,00
ab 14 Jahren
Am 29. April 2017 fand ein Mann in Mönchengladbach-Rheindahlen in einer „besseren Wohnlage“ während einer Gassirunde mit seinem Hund hoch oben in einer Eibe den bereits mumifizierten Leichnam von M.Die Obduktion konnte nur noch den ungefähren Todeszeitpunkt zwischen Ende Januar und Anfang Februar 2016 bestimmen. Einen Zeitraum, in dem M. 17 Jahre alt geworden wäre. Seine Leiche hing in der Eibe inmitten eines Wohngebietes und an einer belebten Kreuzung.
M. war drei Jahre zuvor Zeuge eines Familiendramas, bei dem sein Vater seine schwer kranke Mutter mit dreiunddreißig Messerstichen tödlich und M. mit mehreren, darunter einem lebensgefährlichen Stich in die Lunge schwer verletzte. Es gab immer wieder heftigen Streit in der Familie, oft um M.`s zwei Jahre jüngeren Schwester, die mit deutlich älteren Männern zusammen war und sich von ihren Eltern nichts sagen ließ. Der Vater betäubte sich mit Alkohol und entzog sich der Familie in einen Kellerraum.
M. und seine Schwester kamen getrennt und ohne gegenseitigen Kontakt in die Obhut von Kinder- und Jugendheimen. M. zieht sich immer mehr zurück, bis auf einen anderen Jugendlichen im Heim kommt kein anderer an ihn ran. Als sich der Vater der beiden und Mörder der Mutter während seiner Haft das Leben nimmt, reißt M. aus dem Heim aus und lebt auf der Straße. Auch hier versucht man, ihn mit eigener Entscheidung auf einen neuen Weg zu helfen. M. lehnt alle Hilfsangebote ab und doch gibt es rückblickend von ihm gesendete Signale, mit denen er auf seine Weise um Kommunikation und um Hilfe gebeten hat, die aber nicht gehört bzw. nicht verstanden wurden.
Im Nachhinein ist die Fassungslosigkeit und Traurigkeit über die Tatsache groß, dass ein Jugendlicher im Sichtfeld seiner Mitmenschen, die um seine Not wissen und ihn jeden Tag sehen, auf einem Baum im Winter stirbt und keiner es bemerkt. Viele haben es geahnt, irgendwas gewusst, die zuständigen Behörden und Institutionen schieben sich gegenseitig die Schuld zu oder verhängen nach außen hin einen Maulkorb.
Christian Duda hat um diesen leider realen Todesfall eine fiktive Geschichte geschrieben, bei der er sich dennoch genau an den Ablauf und Begebenheiten gehalten hat, die in zahlreichen Reportagen und Artikeln dargestellt wurden. Dabei stellt er auch sich widersprechendes und Ungereimtheiten in Frage.
Die Geschichte hat der Autor wie eine Gerichtsakte aufgebaut, die mit „Anklage, Urteil, Vollzug“ und entsprechenden Unterpunkten gegliedert ist. In kurzen, nüchternen Sätzen erzählt er aus unterschiedlichen Perspektiven den familiären Hintergrund von Marius, so nennt er den Jungen, und wie dieser nach dem Mord an seiner Mutter immer mehr aus seinem Leben entgleitet. Dabei setzt er Marius Gedanken, die fett gedruckt hervorgehoben werden, zwischen der perspektivisch wechselnden Erzählungen, was einen distanzierten, nonverbalen Dialog ergibt. Die teils harte Sprache ist jedoch an keiner Stelle überzogen oder künstlich einem Jugendjargon angelehnt, sondern reflektiert das immer mehr sich auflösende Leben von Marius, der zwar leise Hilfe- und Kommunikationszeichen von sich gegeben hat, die aber von den Mitmenschen nicht wahrgenommen wurden.
Christian Duda`s real-fiktive Geschichte ist erschütternd und macht tief betroffen, weil man hier am Beispiel von Marius einen realen Verlauf sieht, wie ein schwer traumatisierten Jugendlicher durch unser soziales Netz fällt. Die Handlung schockiert auch, weil der Autor über die klaren Missstände unserer „sozialen Gemeinschaft“ auf den moralisch erhobenen Finger verzichtet, sondern mit dem Kniff der nach Aktenlage ohne Sentimentalität erzählten Familiengeschichte mit der inneren Stimme von Marius eine Wucht, eine Sprachlosigkeit und Wut erzeugt, die nachdenklich macht und lange nachhallt. Ich habe mich immer wieder bei den Fragen ertappt, ob ich den Jungen bemerkt hätte und wenn ja, was hätte ich getan, wie hätte ich reagiert?
Das Buch hat eine Leseempfehlung ab 14 Jahren, die gerecht ist. Für sensiblere Leser*innen wäre es sinnvoll, wenn auch Erwachsene zum Austausch begleitend mitlesen, obgleich sich dieses Buch generell auch an Erwachsene richtet.
Man würde gerne sagen, so etwas kann und darf keinem Kind, Jugendlichen, keinem Erwachsenen in unserem Land passieren, doch die realen Zu- und Missstände unserer oft wegsehenden Einzelkämpfer-Gesellschaft von Jedermann bis hin zu Behörden und Institutionen bestätigen den tragischen Fall des „Baumschläfers“.
Sabine Wagner