Alex Schulman
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
dtv, 21.09.2022
304 Seiten, € 23,00
Bereits in seinem ersten in Deutschland, bei dtv erschienenen Buch „Die Überlebenden“ hat sich Alex Schulman mit seiner Familie und Kindheit auseinandergesetzt und mich begeistert. Entsprechend neugierig war ich nun auf seinen in Deutschland neu herausgegebenen Roman. In dieser Geschichte setzt er seine Großeltern, den 1996 mit 91 Jahren verstorbenen und vor allem in Schweden bekannten Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Sven Stolpe sowie seine 2003 mit 95 Jahren verstorbene Ehefrau Karin Stolpe in den Focus.
Alex Schulman spürt, dass von ihm ein Verhalten ausgeht, vor dem sich seine drei noch kleinen Kinder fürchten. In einer beschriebenen Situation stellt er traurig fest, dass seine kleine Tochter Angst vor ihm hat. Obwohl er in keiner Weise gewalttätig gegenüber seinen Kindern ist, reagiert er ihnen und seiner Frau gegenüber dennoch oft jähzornig, unkontrolliert und auch egoistisch. Als nach einem Streit mit seiner Frau diese ihm eröffnet, dass sie nicht weiß, „wie lange sie das noch ertragen kann“, erkennt der Autor die Gefahr um seine Ehe und Familie und begibt sich in eine Psychotherapie. Bei einer Familienaufstellung soll er die Verbindung der Familienmitglieder mütterlicher- und väterlicherseits mit einem geraden Strich, wenn sie gut ist und mit einem gezackten Strich, wenn sie nicht gut ist, erkennbar machen. Alex Schulman stellt fest, dass sich die Familie auf der väterlichen Seite harmonisch darstellt, auf der mütterlichen Seite dagegen nur ein wirres Chaos von gezackten Strichen gibt. Er erinnert sich an Erlebnisse mit seinem Großvater mütterlicherseits Sven Stolpe und seiner Großmutter Karin, bei denen er alleine und mit seinem Bruder oft zu Besuch war. Der Autor glaubt, dass die Dunkelheit und Wut, die in ihm herrscht und so unberechenbar macht, aus dieser Familienseite stammt und dass Sven Stolpe „der Schlüssel“ dazu ist. Er sucht in Bibliotheken, Archiven alle ihm zur Verfügung stehenden Dokumente und vor allem Tagebücher zusammen und entdeckt dabei die unglückliche Liebe zwischen seiner Großmutter Karin und dem Schriftsteller Olof Lagercrantz.
Alex Schulmann lässt seinen Roman in drei Zeitebenen parallel laufen: 1932, zu der Zeit, in der sich Sven und Karin Stolpe und Olof Lagercrantz während eines Schreibseminars in Sigtuna kennenlernen. Während sich Sven auf sein Schreiben konzentriert und sich wenig mit seiner Frau austauscht, die sich mit ihren Übersetzungsarbeiten abmüht, lernt Karin hier Olof kennen. Schnell stellen beide fest, dass sie sich ineinander verliebt haben, was eine Katastrophe bedeutet, wenn Sven Stolpe das herausbekommt. Es wird allerdings zur Katastrophe kommen, die in diesem Buch beschrieben und ein Leben lang ein Geheimnis zwischen den Eheleuten Stolpe und Olof Lagercrantz bleiben wird, bis es von ihrem Enkel Alex aufgedeckt wird. Die zweite Zeitebene ist 1988, in der sich der 12-jährige Alex an Erlebnisse bei Besuchen bei seinen Großeltern Sven und Karin erinnert und die dritte Zeitebene ist die Gegenwart.
Mit diesen drei Zeitperspektiven baut Alex Schulman sehr geschickt eine spannende Handlung auf und setzt 1932 Stück für Stück, wie ein Puzzle, die unglückliche wie dramatische Liebesgeschichte zwischen Karin und Olof zusammen. Ich habe mit Karin gebangt und gehofft, dass sie sie sich von ihrem tyrannischen, demütigenden und entwürdigenden Ehemann trennen wird, der sie unter anderem mit seiner Lungenerkrankung unter Druck setzt und zum Bleiben zwingt – und sie sich zwingen lässt. Es bleibt offen, ob Karin und Olof miteinander glücklich geworden wären, denn Karin bleibt bis zu seinem Tode an Svens Seite.
Dieser Mann, der sich christlich und gläubig nach außen präsentieren wollte, dessen Antrieb aber schon in jungen Jahren eine verachtende, um sich schlagende Wut auf seine Umwelt war, dabei krankhaft narzisstisch nicht nur seiner Frau und Kindern mit unglaublichen Erniedrigungen und Kränkungen begegnet ist, übt gleichzeitig eine ungebrochene Macht aus. Bei dieser Figur zeigt sich in der Geschichte aber erstaunlicherweise keinerlei Entwicklung seiner Persönlichkeit. So, wie er in jungen Jahren dargestellt wird, blieb er bis ins hohe Alter, was ich eindimensional finde. Genauso erscheint mir die Behauptung des Autors, dass seine Großmutter scheinbar ohne persönlichen Schaden die jahrzehntelangen, unfassbaren Demütigungen überstanden hat und stattdessen mit „Selbstachtung und geradem Rücken geschrumpft“ ist, aus psychologischer Sicht und Lebenserfahrung unrealistisch.
Die quälende Liebes- und Dreiecksgeschichte zwischen Sven und Karin Stolpe und Olof Lagercrantz hat Alex Schulman, gestützt auf Tagebüchern von Stolpe und Lagercrantz, wie aus zahlreichen Briefen, rundum fesselnd erzählt. Doch das Auseinandernehmen des Großvaters und das gleichzeitige „aufs Söckelchen heben“ seiner Großmutter erschienen im Laufe der Zeit zu überzogen.
Am Ende des Romans glaubt Alex Schulman mit der Erkenntnis der menschenverachtenden, narzisstischen Persönlichkeit seines Großvaters und dessen Übertragung über Generationen hinweg, die Ursache seiner eigenen Dunkelheit und groben Wut gefunden zu haben. Welche Konsequenzen er damit für sein eigenes Tun und Verhalten zieht, lässt der Autor allerdings offen, obwohl diese Überlegung ja auch zum Ausgangspunkt der Geschichte gehörte. Ich hatte am Schluss so ein „G`schmäckle“, dass Schulmans Demontierung des einmal in Schweden populären Schriftstellers und Literaturkritikers Sven Stolpe in ihrer Eindeutigkeit auch eine (wenn auch nachvollziehbare) tief verachtende Wut in sich trägt. Damit wirkt der Roman für mich wie eine psychotherapeutisch geschriebene Abrechnung mit dem Großvater, mit der Hoffnung des Autors, es in seinem Leben und für seine Familie besser zu machen.
Auch wenn Alex Schulman mit „Verbrenn all meine Briefe“ 2018 in Schweden seinen großen Durchbruch hatte, kommt dieser Roman für mich nicht annähernd an die Qualität von „Die Überlebenden“.
Sabine Wagner