Unsere verschwundenen Herzen

Celeste Ng

Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

dtv, 05.10.2022

400 Seiten, € 25,00

 

 

 

Die in Cambridge, Massachusetts lebende Schriftstellerin Celeste Ng hat mich bereits mit ihren ersten beiden bei dtv veröffentlichten Büchern „Kleine Feuer überall“ und „Was ich euch nicht erzählte“ begeistert, die beide hierzulande auf der Bestsellerliste standen, umso neugieriger war ich auf ihr neues Buch. In beiden vorgenannten Roman stehen Familiengeschichten mit einem kritischen Blick auf das gesellschaftliche Leben im Zentrum. In dem neuen Roman geht es erneut um eine Familiengeschichte, allerdings eingebettet in einer düsteren Dystopie, die in Massachusetts verortet ist.

Die Hauptfigur der Geschichte ist Noah, genannt Bird, ein zwölfjähriger Junge, Sohn von  Margaret Miu, Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln und ihres amerikanischen Mannes Ethan Gardner. Margaret ist Dichterin und Ethan Professor an der Harvard University in Cambridge für Etymology, der Wissenschaft von der Herkunft und Geschichte von Wörter und ihren Bedeutungen. Beide kümmern sich liebevoll um Bird, wobei Margaret eine ganz besonders innige Beziehung zu ihrem Sohn hat. Bird wird in einer Zeit geboren, in der Amerika nach einer langen, schweren Krise  wirtschaftlich ruiniert und gesellschaftlich sehr gespalten ist. Amerika sieht das wirtschaftlich hervorragend dastehende China als Grund für den Zerfall ihres Landes und verfolgt mit brutaler Gewalt und Denunziantentum asiatisch aussehende Menschen in den USA, aber auch Menschen mit einem niedrigen sozialen Status und Einkommen werden gegängelt und verfolgt. Es werden Kinder aus diesen Familien entrissen und anonymen Pflegefamilien an unbekannten Orten mehrfach weitergereicht, so dass eine Verfolgung oder Befreiung unmöglich ist.

Amerika hat das Gesetz „PACT“ (Preserving American Culture and Tradition) verabschiedet, das diese Handlungen und brutale Übergriffe gegen jeden chinesischen und antiamerikanischen Einfluss erlaubt. Auch Birds gleichaltrige Freundin Sadie wird Opfer dieser Diskreminierungen und aus ihrer Familie gerissen, weil sie aus einer sozialschwachen Familie stammt. Birds Mutter hat vor einiger Zeit einen kleinen Gedichtband herausgebracht, aus dem ein Gedicht mit dem Titel „Unsere verschwundenen Herzen“ zur Parole der Widerständler im Untergrund gegen PACT wurde. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Verfasserin Margaret Miu verfolgt wird und sie von einem Tag auf den anderen ihre Familie und den noch kleinen Bird verlässt, um sich in Sicherheit zu bringen. Ethan und Bird müssen ihr Haus mit Garten verlassen und ein kleines Zweizimmer-Apartment auf dem Universitätsgelände beziehen, Ethan darf nicht mehr als Professor arbeiten, sondern ordnet nun in der Uni-Bibliothek Bücher ein. Er sagt Bird immer wieder, seine Mutter zu vergessen, denn er will mit seiner revolutierenden Frau nicht in Verbindung gebracht werden.

Ein Zufall lässt Bird einige Jahre später seine Mutter in New York suchen. Dort erfährt er zum ersten Mal die Wahrheit über seine Eltern, seine Herkunft und Familiengeschichte. Bird findet auch heraus, welche wichtige Rolle das Netzwerk von Bibliotheken und deren Mitarbeiter in dem Widerstand gegen PACT spielen. Eine Widerstandsbewegung, in dem Birds Mutter Miu eine bedeutende Rolle hat, in der sie sich unermüdlich dafür eingesetzt hat, entrissene Kinder wieder zu ihren Eltern zu führen, auch wenn es nur vereinzelt gelungen ist.

Von Beginn an hängt eine melancholische aber auch brodelnde Atmosphäre über der Geschichte, die ich am Anfang noch spannend, doch je länger sie sich aufbaute, leider konstruiert und überfrachtet fand. Celeste Ng versucht so viel wie möglich an gesellschaftlicher Kritik der Gegenwart mit brisanten Themen wie wirtschaftliche Krisen, Ursachenempfinden und Konsequenzen, Rassismus, Diskriminierung, Denunziantentum, und antidemokratische Staatsformen mit dystopischer Adaption zu verbinden. Zur Stimulation hebt sie die Kraft der Dichtkunst hervor und setzt die Bedeutung von Bibliotheken und der Literatur allgemein in den Focus.  Es lässt sich (leider) nicht verleugnen, dass einiges an diesen finsteren Zuständen in der Zukunft durchaus schon in der heutigen Zeit erkennbar sind, dennoch stellt sich der beschriebene Widerstand von Margaret Miu in New York zunehmend überzogen konstruiert dar. Auch wenn Celeste Ng in Margarets Erzählungen immer wieder Märchen und faszinierende Poesie mit folgenreicher Bedeutung einbezieht, wirkt genau das zum Schluss hin für mich rührselig, wie hart am Kitsch vorbei schrammend die Mutter-Sohn-Beziehung. Gerade bei dem Figurenausbau hat die Bestseller-Autorin für mich nicht die Tiefe entwickelt, wie bei ihren vorherigen Büchern, sich dafür bei den Beobachtungen der Gesellschaft und Politik entäuschend stereotyper Bilder bedient. Was an der einen Stelle zu überfrachtend wirkt, wird an anderer Stelle für mich mit zu gefühlsseligen Bildern kompensiert. Gerne hätte ich Celeste Ng die Kraft der Literatur und von mir aus auch die Wichtigkeit der Bibliotheken abgenommen, aber die Bedeutung in dieser Story wirkt leider für mich zu konstruiert und überspitzt. Der Autorin ist es allerdings dennoch berührend gelungen zu zeigen, wie schnell sich Demokratie durch die Beeinflussung einer despotischen Politik und dadurch angsterfüllten Gesellschaft  in ein autoritäres, rassistisches Regime verändern kann. Diese letztlich aufwühlende Auseinandersetzung in Verbindung mit dikatorischer Kontrolle und Widerstand hat mich die Geschichte bis zu Ende lesen lassen.

In ihren ersten beiden Büchern, die in der Gegenwart spielen, überzeugte mich Celeste Ng mit einem psychologisch tiefen Blick auf Personen, Beziehungen und klaren, kritischen Beobachtungen auf die Gesellschaft, ihr schriftstellerischer Ausflug in eine dystopische Zukunftswelt ist für mich nur in Teilen gelungen.

Das Cover, das Assoziationen zu einem Gefängnis auslöst, passt perfekt.

Sabine Wagner

 

 

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