Caroline Wahl
Dumont, 18.04.2023
208 Seiten, € 22,00
Es ist ein heißer Sommer und Tilda schwimmt regelmäßig 22 Bahnen im Freibad oder an den wenigen Regentagen im Hallenbad. Beim Schwimmen kann sie abschalten, der Druck von ihrem eng getakteten Alltag fällt ab. Wenn sie nicht als Mathematikstudentin an ihrer Masterarbeit schreibt, sitzt sie an der Supermarktkasse und kümmert sich liebevoll um ihre kleine Halbschwester Ida, die gerade die Grundschule abgeschlossen hat und nach den Sommerferien auf ein Gymnasium wechselt. Die beiden wohnen mit ihrer Mutter in der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, allerdings gibt es nicht viel Fröhlichkeit, denn die Mutter ist alkoholkrank, arbeitet nicht und kümmert sich weder um Ida noch um sonst irgend etwas. Somit ist Tilda verantwortungsvoller Mutterersatz und übernimmt neben neben ihrer Masterarbeit, der Arbeit im Supermarkt auch den ganzen Haushalt. Die beiden Väter der beiden spielen keine Rolle, Ida kennt ihren nicht einmal.
Eines Tages taucht Viktor im Freibad auf, der wie Tilda, 22 Bahnen durchzieht. Viktor ist der ältere Bruder des vor fünf Jahren durch einen furchtbaren Unfall verstorbenen Ivan und damals engen Freund von Tilda. Tilda erinnert sich wieder an die Zeit vor dem Unfall und fragt sich, was Ivan plötzlich in der Kleinstadt macht. Als Viktor die beiden, nach einer durch die Mutter zuhause verursachten außer Kontrolle geratenen Situation, für eine Nacht bei sich aufnimmt, ist Viktor von der Situation überfordert. Zwischen Tilda und Viktor entwickelt sich eine schwierige Beziehung zwischen Anziehung und auf Abstand halten. Neben dieser neuen Gefühlsturbulenz steht Tilda kurze Zeit später überfordert vor dem Angebot ihres Professors, direkt nach der Masterarbeit im Januar in Berlin ihre Promotion anzuschließen. Kann sie Ida mit ihrer Mutter alleine lassen, ist die kleine Schwester dafür stark genug und darf Tilda auch an ihr eigenes Leben und Zukunft denken?
Die 1995 geborene Caroline Wahl präsentiert mit „22 Bahnen“ ein beeindruckendes Debüt. In einer erfrischend jungen Sprache, die es nicht nötig hat, künstlich einen Jugendjargon zu okkupieren und von rauh bis feinfühlig alle Facetten zeigt, liest man eine gut aufgebaute Geschichte von zwei Schwestern, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen müssen, weil ihre alkoholkranke Mutter es nicht kann und bisher keinen Entzug wirklich ernst genommen hat. Tilda musste schon früh erwachsen werden, da ihre Mutter weder für sie noch für die kleine Schwester Verantwortung übernommen und Fürsorge gegeben hat. Als Ersatzmutter für die kleine Ida, als Ernährerin für die kleine Familie bleiben ihr viele Freiheiten und Möglichkeiten, sich Träume zu erfüllen, verwehrt. Dafür weiß sie, was bedingungsloser Zusammenhalt bedeutet, umso schwieriger ist es für sie, sich zuzugestehen, ein eigenes Leben mit einer eigenen Zukunft zu haben. Rührend aber nicht sentimental ist Tildas Bemühen, Ida mit entsprechenden Filmen und Literatur für ein Leben ohne sie vorzubereite und stark zu machen. Ida ist eine gute Schülerin und künstlerisch sehr begabt, hat sich aber in ihrer Grundschulzeit immer mehr zurückgezogen, auch aus Scham vor ihrer Mutter. Mit ihren 10 Jahren ist sie wenig Kind, zu erwachsen, denn kindliche Unbefangenheit, Freude kennt sie kaum. Auf dem Gymnasium findet sie endlich Anschluss und eine neue, gute Freundin, die sie gerne mit nach Hause einlädt.
Die innere Zerrissenheit zwischen dem Spagat der Verantwortung, Fürsorge und der Tatsache, dass Tilda als junge, talentierte Mathematikerin das Recht auf ein eigenes Leben und Zukunft hat, aber auch die Wut der beiden Schwester gegenüber ihrer Mutter, die sie trotzdem lieben, beschreibt Caroline Wahl mit tiefer Warmherzigkeit und durchaus auch mit leisem Witz, aber auch mit einer nüchternen, ja manchmal erbarmunslosen Offenheit. Die Autorin zeigt ohne den moralisch erhobenen Finger mit Kleinigkeiten, wie wichtig manchen Menschen bestimmte (Luxus)-Marken und Artikel sind, die ein bestimmtes Prestige verleihen. Kann (oder will) man sich die nicht leisten und kauf die „no-name-Artikel“ fällt man auf.
„22 Bahnen“ ist eine von der ersten bis zur letzten Seite fesselnde, nachdenklich machende wie nachhallende Familiengeschichte mit tiegründig ausgearbeiteten Figuren. Beeindruckend erzählt Caroline Wahl von der Diskrepanz einer jungen Frau zwischen Verantwortung für die kleine Schwester wie der Mutter aber auch dem eigenen Leben und Zukunftsträumen gegenüber.
Eine talentierte junge Autorin, die ich im Blick halten werde.
Das schöne Cover passt perfekt.
Sabine Wagner