Das Bücherschiff des Monsieur Perdu

Nina George

Droemer Knaur, ET 03.04.2023

384 Seiten, € 21,00

 

 

 

 

Manchmal frage ich mich, ob es eine kluge Idee ist, ein Buch, dass einen verdienten, großartigen Erfolg gefeiert hat, viele Jahre später wieder aufzunehmen, entweder als Prequel oder Fortsetzung der Story. Selten erfährt man als Leser*in die wahren Hintergründe der Weiterführung, ob es die Hoffnung des Verlages auf einen erneuten finanzieller Erfolg ist, womit der Autor/die Autorin zum Schreiben animiert wird, oder ob es der eigene Wunsch des oder der Schreibenden ist.

„Das Lavendelzimmer“ von Nina George erschien 2013 und wurde, in 37 Sprachen übersetzt, ein internationaler Bestseller. In diesem wunderbaren Roman begegnete man zum ersten Mal dem Buchhändler Jean Perdu und seinem Bücherschiff „Pharmacie Littéraire“, auf dem Jean Perdu mit seiner besonderen Gabe seinen Patient*innen, respektive Leser*innen mit stets der richtigen Wahl des Buches für den jeweiligen Moment und entsprechenden Stimmungslage „verarztete“. Die Liebe zu Büchern, wie sie trösten, aufbauen und welchen Einfluss sie haben, stand unaufgeregt im Focus dieser warmherzigen Hommage an das Lesen und die Welt der Bücher. Nachdem Perdu seine neue Liebe Catherine auf seiner Reise gefunden hat, gibt er sein Bücherschiff in andere Hände, um mit der Bildhauerin ein neues Stück gemeinsamen Lebensweges an Land zu gehen.

Das vorliegende Buch setzt vier Jahre später an. Perdu und Catherine sind nach wie vor als Seelenverwandte ein liebendes Paar und leben in der Provence. Trotzdem hat Perdu eine innere Unruhe, die auch von Catherine und seinen engsten Freunden nicht unbemerkt bleibt. Die beiden Freunde, die von ihm damals das Schiff übernommen haben, möchten ihre eigene Ideen an Land verwirklichen und bitten Perdu, das Bücherschiff nach Paris an seinen alten Platz zurückzubringen, damit er dort mit seiner „Literarischen Apotheke“ wieder weiterhelfen kann. Nach anfänglichem Zögern freut sich Perdu auf diese Reise durch die Kanäle, die er gemeinsam mit seinem Freund Max und den beiden Bootskatzen Kafka und Lindgren angeht. Max will die Zeit auf dem Boot nutzen, um mit sich und der Neuigkeit seiner zukünftigen Vaterschaft ins Reine zu kommen. Das Gespann bleibt aber nicht lange alleine, denn die junge Pauline gesellt sich bald zu ihnen, die vom Virus des literarischen Bücherschiffs angesteckt wird.

Diese Überführung des Bootes nach Paris mit zahlreichen Begegnungen, ist im Wesentlichen die magere Handlung, die wie ein Kanalgewässer träge dahinplätschert und mit ein paar sehr konstruiert wirkenden Begebenheiten aufgefüllt wird: Da taucht beispielsweise ein kleiner Junge auf, der durch ein ihn traumatisierendes Erlebnis nicht mehr spricht, aber durch die plötzlich gefundene Riesenhündin Merline wieder zu reden beginnt. Die weitere Fahrt auf dem Bücherschiff trägt ebenfalls zu seinem Heilungsprozess bei. Dass Bücher Trost, Kraft, Zuversicht und Mut spenden können, unterstreiche ich zweifellos, aber wie „Heilung“ auf diesem Schiff in verschiedenen Zusammenhängen dargestellt wird, empfand ich befremdlich bis bizarr. Durch den geheimnisvollen Monsieur Bovary wird Perdu auf besonderem Wege dem französischen Präsidenten und Lesemuffel vorgestellt und berät ihn natürlich. Dann tauchen in Paris ein paar Gendarmen auf, von dem einer das Bücherschiff aufgrund angeblicher Mängel still legt, sich aber später plötzlich reuig zum Leser und Rilke-Fan verändert, der andere Gendarm verliebt sich kurzerhand in Pauline.

Am Ende einer jeden Handlung-Episode schließt sich ein Kapitel an, das mit einem bestimmten Thema wie beispielsweise „Der lesende Mensch“, „Zeit der Zauderer“, Der Nichtlesende Mensch“ oder „Vom Reisen der Gedanken“ auseinandersetzt. Diese Kapitel, die sich mit philosophischen Themen über das Lesen und Leben beschäftigen und oft länger als die eigentliche Handlung sind, bilden „Die Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle – das Handbuch für Literarische Pharmazeut:innen“.

Auch wenn ich die poetische, kluge und durchaus philosophische Schreibweise von Nina George in „Das Lavendelzimmer“ oder „Die Schönheit der Nacht“ (sowie in ihren anderen Bücher) mit dem Tiefblick in ihren Figuren schätze, so wenig schwappte bei der Fortsetzung des Bücherschiffes die Welle auf mich über.
Die magere Handlung wirkte wie eine Kontur, die irgendwie gefüllt werden musste, egal, ob die Begebenheiten konstruiert bis unangenehm kitschig wirken. Das empfand ich tatsächlich enttäuschend und den bisherigen literarischen Qualitäten Nina Georges nicht entsprechend.

Der Autorin ist es in „Das Lavendelzimmer“ wie in „Südlichter“ mit einer begeisternden Leichtigkeit gelungen, die Liebe und Leidenschaft zu Büchern und dem Lesen  weiterzugeben und hat hier ohne moralisch erhobenen Finger gezeigt, welche Kraft Bücher besitzen. In der sich mit 31 Abschnitten aufbauenden „Großen Enzyklopädie der Kleinen Gefühle“ sind sicher kluge, weise Gedanken zu lesen, doch insgesamt war mir in einigen Kapitel doch zu viel von oben herab Belehrendes,  zu viele Aphorismen und, pardon, dicht gedrängte „Küchenphilosophie oder Küchenpsychologie“.
Auch wenn in der Handlung immer wieder schöne, passende Büchertipps eingestreut sind (wie auch in den beiden vorgenannten Büchern zu finden), hat Nina George mich mit ihrer „Enzyklopädie“ und ihrem Wunsch nach der leidenschaftlicher Weitergabe von „Büchertrost“ nicht überzeugen können; vielmehr hat mich die dogmatische Geballtheit genervt und immer mehr auf Abstand gehalten. So sehr ich die Aussage aus der Enzyklopädie teile, das kein Kritiker sich erhaben sollte, einen selbst ernannten Bücher-Kanon für Leser*innen festzusetzen, so erhaben wie widersprüchlich finde ich dann, dass diese Enzyklopädie ein Handbuch des „richtigen“ Lesens sein will.
Dass die Autorin am Schluss dann auch noch Jean Bagnol (der Ältere) in der Enzyklopädie Rilke lesen lässt und mit dem gleichnamigen Autorenpaar sich deutlich alias Nina George mit ihrem Ehemann Jens Kramer in Erinnerung ruft, sollte wahrscheinlich witzig sein, es könnte aber auch als schief geratenes „fishing for compliments“ empfunden werden. Letzteres hat Nina George eigentlich nicht nötig.

Natürlich gibt es auch sprachlich sehr schöne Stellen und feine, kluge Gedanken in der Fortsetzung, an die literarische Qualität des „Lavendelzimmers“ kommt dieser Roman aber leider in vielerlei Hinsicht nicht heran. Diejenigen, die „Das Lavendelzimmer“ nicht gelesen haben, werden vielleicht von diesem Roman eher angetan sein, allerdings dürften ihnen dann auch einige Szenen und Beziehungen in dieser Fortsetzung unschlüssig bleiben.

So sehr mich Jean Perdu im „Lavendelzimmer“ mit seiner melancholischen Leichtigkeit begeistert hat, was in dieser Geschichte kein Widerspruch bedeutet, so krampfhaft bemüht, dies zu wiederholen und melodramatisch empfand ich die Geschichte seiner Heimreise. Die Bücherapotheke samt Jean Perdu sind in Paris wieder gut angekommen und er kann dort im Kreise seiner Liebsten und Freunde mit seinen Bücherempfehlungen die Menschen weiter tröstend verarzten. Für mein Empfinden sollte man ihn das nun auch in Ruhe tun lassen und den Schiffsanker nicht noch einmal lichten.

Ob die Fortsetzung nun die erhoffte Wiederholung eines Bestseller-Erfolgs für den Verlag und die Autorin bringt, bleibt abzuwarten. Wie im Leben ist es auch bei Büchern, dass der Schriftsteller beim Schreiben eine Vorstellung hat, die manchmal die Erwartung des Lesers/der Leserin nicht trifft.

Ich freue mich auf das nächste Buch von Nina George, mit einem neuen Thema und ihrem wunderbaren sprachlich-literarischen Talent.

Das Cover ist wunderschön und passt perfekt.

Sabine Wagner

/ eingeschränkt

 

 

 

 

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