Trude Teige
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Fischer Verlag, ET 22.02.2023
384 Seiten, € 22,00
Bereits 2015 erschien in einem Osloer Verlag „Mormor danset i regnet“ von Trude Teige, die zu den bekanntesten Journalistinnen und Moderatorinnen in Norwegen gehört. Das Buch stand viele Jahre auf den norwegischen Bestsellerlisten und wurde in vielen Sprachen übersetzt. Nun hat acht Jahre später der Fischer Verlag das Buch auch für den hiesigen Markt entdeckt und wurde von Günther Frauenlob ins Deutsche übertragen.
Drei Generationen verbindet Trude Teige in ihrer Geschichte, die zeitlich in der Nachkriegszeit in Deutschland und Norwegen sowie der Gegenwart angelegt ist. In der Gegenwart flüchtet die junge Frau Juni nach einem erneuten brutalen Übergriff ihres Mannes und ihrer gerade festgestellten Schwangerschaft auf eine kleine norwegische Insel in das Haus ihrer Großeltern. Hier hat sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht, während ihre Mutter Lilla auf dem Festland in einem Modegeschäft arbeitete. Nur am Wochenende kam sie zu Besuch und nicht immer war sie eine warmherzige Mutter für die kleine Juni, während es dieser bei Oma Tekla und Opa Konrad an nichts fehlte. Mittlerweile sind die Großeltern tot und auch Lilla ist vor kurzem an Krebs verstorben, die ihre letzten Jahre in dem Haus ihrer Eltern verbracht hat, wo auch Juni jetzt Schutz und Geborgenheit sucht. Juni ist alleine, denn Geschwister hat sie keine und ihre Mutter hat ihr nie gesagt, wer ihr Vater ist.
Während Juni durch das Haus auf Erinnerungssuche an ihre schöne Kindheit geht, findet sie ein Foto, auf dem ihre Großmutter verliebt neben einem deutschen Soldaten steht. Juni kennt diesen Mann nicht und kann sich nicht daran erinnern, dass Tekla ihr einmal etwas darüber einen deutschen Soldaten erzählt hat. Der jungen Frau fällt ein, dass ihre Großmutter immer dann, wenn es regnete, in den Garten ging und dort zwischen den Obstbäumen tanzte. Nie sah Juni sie so glücklich und losgelöst wie in diesen Momenten. Danach zog sie sich mit Konrad und einem Glas Portwein zurück, um miteinander zu reden. Juni beschließt herauszufinden, wer dieser Mann auf dem Foto ist.
Während Juni in der Ich-Perspektive erzählt, wechseln sich die Kapitel mit der zweiten Zeitebene ab, die am Ende des zweiten Weltkrieges angesetzt ist. Die junge Tekla verlässt im Streit ihr wohlhabendes Elternhaus in Norwegen, weil sie sich in den deutschen Soldaten Otto verliebt hat und mit ihm nach Deutschland gehen will. Gegen den Willen ihrer Eltern, die eine Beziehung mit einem Deutschen ablehnen. Während der sehr strapaziösen Reise nach Demmin im Norden Deutschlands, wo Ottos Familie das große Gut Klaushagen hat, heiraten die beiden, weil mit der Heirat die Einreise nach Deutschland einfacher werden soll, dabei werden Tekla aber ihre norwegischen Pässe und Papiere von den norwegischen Behörden abgenommen.
In Demmin angekommen, erkennt Otto das ehemals gepflegte Gut nicht mehr wieder. Sein Vater liegt im Sterben, alle anderen Familienmitglieder haben den Krieg nicht überlebt. Die Russen haben Klaushagen, wie alles andere in der Gegend auch, annektiert. Die einzig noch verbliebene Haushälterin „Mamsell“ erzählt Otto und Tekla, was in der Vergangenheit passiert ist und verschweigt auch nicht die grausamen Massenvergewaltigungen der Russen an den Frauen, auch an seiner Mutter und Schwester. Viele Frauen haben Selbstmord begangen, um diesen Gräueltaten zu entgehen oder weil sie mit den Folgen nicht leben konnten, Männer haben sich und ihre Familien getötet, um sich davor zu bewahren. Eine Zeit lang bleiben Otto und Tekla unter den Russen auf dem Gut, doch Otto kann nicht länger dort leben und so beschließen die beiden, auch wenn es lebensgefährlich ist, vor den Russen zu fliehen und irgendwo anders neu anzufangen.
Weder Juni noch ihre Mutter Lilla haben auch nach hartnackigem Nachfragen erfahren, wer ihr Vater ist. Diese schwerwiegende Identifikationsfrage zieht sich neben der Frage und Suche nach Wahrheit wie ein roter Faden durch den Roman. Thekla hinterlässt ihrer Tochter und Enkelin viele offene Fragen, die sie einerseits zum Schutz der Fragenden nicht beantwortet, dabei aber nicht daran denkt, dass Lilla daran zerbrechen könnte. In einer unaufgeregten und dennoch bewegenden Sprache taucht man in die komplexe, generationenübergreifende Familiengeschichte ein, in der Traumata nicht besprochen werden und (un-)bewusst in die nächsten Generationen weitergegeben werden.
Trude Teige hat eine beeindruckende und sorgfältig historisch recherchierte Familiengeschichte geschrieben, die mit sehr gut ausgearbeiteten Charakteren von norwegischen Frauen erzählt, die durch die Liebe, Heirat mit deutschen Soldaten und dem Weggehen aus Norwegen von ihren Familien verstoßen wurden und als „Deutschhure“ oder „Deutschenmädchen“ bezeichnet wurden. Eine Rückkehr nach Norwegen der jungen Frauen war fast unmöglich, da ihnen die norwegische Staatsangehörigkeit aberkannt wurden. Diese Tatsache, wie die historisch belegte Tragödie von Demmin im Mai 1945, als die Russen im Westen vorrückten, sind heute nur noch wenigen bekannt. Von dem grausamen, brutalen Schicksal durch Massen-Vergewaltigungen an Frauen im russisch besetzten Deutschland wissen viele heute ebenfalls nichts mehr. Diese Geschehnisse werden ungeschönt erzählt, so dass ich Lesepausen zum Innehalten machen musste.
Ein fesselnd gut erzählter, aufrüttelnder Familienroman, die die Identifikationsfrage und Weitergabe von unbearbeiteten Traumata mit einem Stück deutsch-norwegischer Zeitgeschichte verbindet, die sicher heute nur wenigen so bekannt ist.
Das Cover assoziiert bei mir leider einen kitschig-naiven Heimatroman und passt einfach nicht zur beeindruckenden Geschichte.
Sabine Wagner