Saša Stanišić
Mit Bildern von Regina Kehn
Carlsen Verlag, 27.04.2023
192 Seiten, € 14,00
ab 11 Jahre
Kemi muss ins Sommerferienlager, weil seine allein erziehende Mutter nicht frei bekommt. Für eine Woche heißt es für ihn „Abenteuer Wald – Abenteuer Mensch“. Eine riesige Herausforderung für Kemi, der als überzeugter Stadtmensch Brennnesseln, jede Art von Insekten, insbesondere Zecken und Mücken hasst. Doch die Mutter hat keine Alternative und somit muss ihr Sohn in die große, weite Wildnis. Beim Treffpunkt stellt Kemi fest, dass bis auf wenige Ausnahmen fast alle aus seiner Stufe in den Wald wollen, was eine weitere Herausforderung für ihn ist. Kemi ist ein kleiner Eigenbrötler und gehört nicht zu einer der üblichen Grüppchen der Klassen und Stufen, die auch gerne über andere lästern. Neben Kemi fährt auch Jörg aus seiner Stufe mit in den Wald, der von den anderen gemieden oder gehänselt wird. Zu denjenigen, die einen Spaß daran haben, andere, die, „andersig“ sind, so wie Kemi und Jörg, zu quälen, gehören Marko und die Dreschke-Zwillinge, die Markos Support bilden.
Im Wald angekommen, beziehen Kemi und Jörg eine gemeinsame Hütte mit Schlafraum. Kemi versucht die Aktivitäten im und um den Wald so gut es geht zu vermeiden und gerät dabei mit den Betreuer*innen in ständige Diskussion, dafür kommt er aber mit dem Koch in einen guten Kontakt, was ihm später noch zugute kommt.
Kemi beobachtet Jörg neugierig und kommt mit ihm ins Gespräch. Im Gegensatz zu ihm liebt Jörg den Wald und das Wandern und kennt sich bestens mit der dazugehörigen Ausrüstung aus. Der olle Rucksack, über den sich sogar Kemi insgeheim lustig macht, hat Jörg von seinem Vater geschenkt bekommen und jeder der vielen Pins am Rucksack sind Erinnerungen an die zahlreichen Touren und Gipfel, die er mit ihm gegangen ist bzw. erklommen hat. Während Kemi Blasen an den Füßen bekommt und nicht weiß, wie man einen Rucksack richtig packt und was alles hineingehört, ist Jörg freundschaftlich mit Rat und Tat an seiner Seite.
Für Marko und die Dreschke-Jungs ist Jörg allerdings in dem Ferienlager ein gefundenes Fressen zum Quälen, Hänseln und Ausgrenzen. Zunächst beobachtet Kemi nur und steht dem mehr oder weniger machtlos gegenüber. Er weiß, dass er selber „andersig“ ist, aber offenbar ist Jörg noch viel „andersiger“. So ganz sicher ist sich Kemi allerdings nicht.
Ist nicht jeder von uns „andersig“ als der andere und warum wird ausgerechnet der zurückhaltende, immer nette, freundliche Jörg so gehänselt und geärgert und warum wehrt er sich nicht? Je mehr Kemi vom Mobbing gegenüber Jörg mitbekommt, desto wütender wird er. Er wird so wütend wie ein Wolf, der in seiner Hütte umhergeht. Kemi will Jörg beistehen und helfen, weiß aber auch, dass das nicht einfach werden wird.
Saša Stanišić lässt aus der Sicht von Kemi mit einem eigenen, „andersigen“ Humor und einem durchaus ironischen, manchmal auch leicht zynischen Unterton die Geschichte erzählen. Dabei beobachtet Kemi kritisch das Verhalten und Wegsehen der betreuenden Erwachsenen, spiegelt aber auch manches mit einem Augenzwinkern. Das mehrschichtige und dynamische System von Mobbing ist in der Darstellung für ein Kinderbuch kein leicht zu verpackendes Thema, aber Saša Stanišić gelingt es mit einer gewissen transparenten Leichtigkeit. Bei Mobbing gibt es immer einen Verursacher, eine Gruppe, die von den Mobbing-Aktionen weiß, aber wegschaut und eine Gruppe, die den Mobbenden unterstützen. Auch für Kemi ist es nicht einfach, Jörg als Einziger beizustehen. Zwischen Angst, Wut und Verzweiflung bekommt er unverhoffte Unterstützung durch den Koch.
Auch wenn der Autor mit einem guten Blick auf Kinder das komplexe Thema nachvollziehbar verpackt, ist „Wolf“ nicht nur ein Buch für Kinder ab 11 Jahren, sondern für jedes Alter, da es unaufdringlich und auf eine empathische, eigenwillige wie für jeden nachvollziehbaren Weise von Mobbing, Freundschaft, Toleranz und dem Mut, für einen anderen einzustehen erzählt. Dass der Autor bei diesem Thema auf ein „Happy End“ verzichtet ist leider realistisch, auch wenn man sich etwas anderes wünschen würde.
Regina Kehn schenkt dem gelungenen Text wunderbare Bilder, die in Schwarz-Gelb gehalten sind. Die charakteristischen Illustrationen unterstreichen mit ihrem eigenen Strich die Stimmungen und Geschehnisse. Eine rundum gelungene und perfekte Symbiose von einem schwierigen Thema, verpackt in einem hervorragenden Text und ebensolchen Bildern – sowie Cover.
Sabine Wagner
