Babel

R.F. Kuang

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan

Eichborn Verlag, 28.04.2023

736 Seiten, € 26

 

 

Eine Rezension über dieses 733 Seiten starke Buch zu schreiben, das verschiedene Handlungsstränge, unterschiedliche Themen verschachtelt miteinander verknüpft und nicht dabei zu Spoilern, ist eine Herausforderung.
Ob man die Story mit „Harry Potter“ vergleichen kann, wie Denis Scheck es in seiner Kritik ausdrückt (für den dieses Buch „das Aufregendste im Fantasygenre seit Harry Potter ist“), angemessen ist und auch in Deutschland so aufgenommen wird, bleibt abzuwarten. Oft ist dieser, leider immer wieder zu lesender Harry Potter-Vergleich, eine in den Himmel lobende Strategie der Marketingabteilung der Verlage, hier noch verbunden mit einem Vorablob eines in weiß gekleideten“Literaturpapstes“.

Für die 1996 in China geborene und in den USA aufgewachsene Rebecca F. Kuang ist das Schreiben von Büchern und Übersetzen nur eine Arbeit von vielen. Mit einem Masterabschluss in zeitgenössischen Chinastudien und Soziologie promoviert sie derzeit in Yale in ostasiatischen Sprachen und Literatur. Der 2022 in den USA und Großbritannien erschienene Roman „Babel“ stand auf Platz 1 der New York Times-Bestseller-Liste, auf Platz 2 der Sunday-Times-Bestsellerliste und auf über 20 Jahresbestenlisten.
Heide Franck und Alexandra Jordan haben für den Eichborn Verlag dieses Werk ins Deutsche übersetzt.

R.F. Kuang siedelt ihre Story ins Jahr 1828 an. Robin Swift wird als Kind von dem britischen Professor Lovell aus dem chinesischen Kanton während eines furchtbaren Cholera-Ausbruchs nach Oxford mitgenommen, während seine gesamte Familie an der Seuche verstorben ist. In Oxford gibt ihm nun Professor Lovell alle Möglichkeiten von Bildung, denn er hat ein persönliches Ziel mit seinem Ziehsohn. Robin lernt viele Jahre Latein, Altgriechisch und Chinesisch bei Privatlehrern. So vorbereitet wird er am Institut für Übersetzung der Universität Oxford, auch „Babel“ genannt, aufgenommen. In Babel wird aber nicht nur Übersetzung gelehrt, sondern auch eine besondere Magie in der Kunst des Silberwerks. Mit Silberbarren werden verloren gegangene sprachliche Bedeutungen festgehalten bzw. eingebrannt und für bestimmte Einsätze in Wirtschaft und Politik einzusetzen. Mit dieser magischen Kunst hat Oxford es zu Ruhm wie Ansehen gebracht und mit dieser Macht auch Einfluss auf die britische Politik genommen, so dass das britische Empire große Teile der Welt kolonisieren konnte. Robin ist froh, nach jahrelangem Einzelunterricht endlich an einer Universität gemeinsam mit anderen studieren zu können. Aber schnell spürt er, dass er, wie seine Mitstudent*innen Ramy, Victoire und Letty aus unterschiedlichen Gründen von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden und die Vier verbünden sich. Sie entwickeln sich zu einer verschworenen Gemeinschaft, die sich in der ersten Zeit gegenseitig stützen, denn das Lernen in Babel ist sehr hart, um die schwierigen Prüfungen zu schaffen und gnadenlos wird jeder entlassen, der nicht überzeugt. Während seiner Studienzeit bekommt Robin Kontakt zum Hermes-Bund, eine Geheimorganisation, die im Untergrund die Macht und den Einfluss der Oxford-Universität auf die britische Politik, die mit Hilfe der Silberbarren den Kolonialismus ausweitet, stoppen will. Durch den Hermes-Bund wird Robin klar, dass auch sein Ziehvater darin verstrickt ist und er ihn nur für seinen eigenen Nutzen aus Kanton nach Großbritannien geholt hat. Bei einem gemeinsamen Auslandsaufenthalt in China mit seinen Freunden geschieht ein tragisches wie folgenreiches Ereignis, dass das Quartett noch mehr zusammenschweißt. Als Großbritannien einen Krieg mit China um Silber und Opium beginnen will, den China dank der babelschen Silberbarren nicht gewinnen kann, müssen sich nicht nur Robin, sondern auch Ramy, Victoire und Letty entscheiden, ob sie weiterhin Großbritannien unterstützen oder sich dem Hermesbund anschließen wollen, der eine Revolte gegen Oxford/Babel plant.

Dieser sehr kompakte Plot, mit verschachtelten Handlungssträngen und einer Flut von unterschiedlichen, teils nur angerissenen Themen, die mit unzähligen und oft unrelevanten Fußnoten ergänzt werden, ist ein ziemlich schwerer Brocken. Da die linguistische Thematik um die sprachliche Magie durch die Silberbarren neben politischen Themen des britischen Empire mit seinem Kolonialismus um 1825 im Vordergrund stehen, fällt mir die Einordnung des Buches als „Fantasyroman“ schwer. Es ist eher eine etwas anstrengende Mixtur von historischem Roman mit Fantasy-Elementen. R.F. Kuang hat durchaus beachtlich historisch recherchierte Tatsachen eingebunden, dabei werden politische und gesellschaftliche Kritik, insbesondere die Haltung Großbritanniens gegenüber China um 1800, Sklaverei, Rassismus und Sexismus hervorgehoben. Diese Auseinandersetzung liest sich im Laufe der Handlung immer mehr als ein wissenschaftlicher Diskurs und auch mit einem moralisch erhobenen Finger abrechnend, was mich immer mehr auf Abstand zur Story gebracht hat.
Das alles verknüpft die junge Autorin mit vier Protagonisten/Protagonistinnen, allen voran Robin Swift, dessen Charakter wie alle anderen mir im Laufe der 733 Seiten jedoch   distanziert blieben und hölzern empfand, aber erfreulicherweise fern von jedem Klischee. Obwohl man den ein oder anderen Höhepunkt in der weitschweifigen Handlung erlebt, bleibt die Story auf vielen Seiten statisch und langatmig. Irgendwann haben mich die ständigen Fußnoten mit zusätzlichen Erklärungen, die teils auf tatsächlich historischen Recherchen beruhen, oft aber nur die Fantasie der Autorin ergänzen und die Rahmenhandlung unnötig aufblähen, nur noch genervt und habe sie nicht mehr beachtet.

Diese komplexe und sprachlich anspruchslose Story zwischen linguistischer Magie und politisch-gesellschaftlicher Kritik im bemühten historisch-fantastischen Mäntelchen ist kein Schmöker für eine breite Leserschaft, wie es J.K. Rowling mit „Harry Potter“ gelang.

Was in diesem Buch für mich auf der Strecke blieb, ist die fundierte Ausarbeitung der Charaktere und das Wichtigste für einen guten Roman – das Talent einer zumindest soliden Erzählkunst. Genau die fehlte bis zum konstruierten wie enttäuschenden Ende, das noch einige Fragezeichen hinterließ.

Wunderschön und ins Auge fallend ist auf jeden Fall das Cover.

Sabine Wagner

 

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