Das Summen unter der Haut

Stephan Lohse

Insel Verlag, ET 17.07.2023

176 Seiten, € 20,00

 

 

 

 

 

Hamburg 1977. Der 14 Jahre alte Julle lebt mit seiner Familie behütet in einem Einfamilienhaus und liebt Jungs. Das weiß außer ihm kein anderer. Julle ahnt, dass seine Mutter und Schwester es wissen, aber gesprochen hat er noch nie mit ihnen drüber. Sein Vater ahnt es wohl nicht und darf es auch auf gar keinen Fall wissen, da er seinen Sohn ohnehin nicht als männlich betrachtet. Kurz vor den Sommerferien kommt Axel in Julles Klasse auf einem musischen Gymnasium. Julle ist sofort verliebt in Axel und die beiden freunden sich an. Julle zählt die Stunden und Tage, die er gemeinsam mit Axel verbringt, aber auch die, die er ohne ihn ist. Die beiden gehen mit anderen Kumpels ins Freibad, zu Zweit besuchen sie die „ältere“ Dame und Nachbarin Edith Walther, die durch einen Sturz ein Bein in Gips hat und entsprechend gehandicapt auf Hilfe angewiesen ist. Julle und seine Schwester wechseln sich mit kleineren Hilfen und Besorgungen ab und so trifft auch Alex auf die interessante Dame. Dafür lernt Julle Axels Zuhause kennen; eine kleine, enge Wohnung in einem Hochhaus, in der er mit seinem Vater und dem recht großen Kaninchen „Babette“ seit kurzer Zeit lebt.

Eines Tages entdeckt Axel im Wald hinter der Siedlung eine heruntergebrannte Hütte und zwischen Schutt und Asche zehn gut erhaltene, unterschiedliche Röntgenbilder von einem Karl Siebert, Jahrgang 1923, der bei der AOK versichert ist. Axel teilt nur mit Julle diesen mysteriösen Fund und will mit ihm herausfinden, warum die Hütte verbrannt wurde und wer die Person hinter den Röntgenbildern ist. Alex glaubt, den Grund für den Brand zu kennen und will das mit Beweisfotos sichern. Julle kann mit dieser Detektivsuche nicht  wirklich viel anfangen, für ihn ist wichtiger, in den gemeinsamen intensiven, aufregenden Wochen herauszufinden, ob seine Liebe zu Alex erwidert wird. Diese gemeinsame Zeit wird für die beiden Jungs aus ganz unterschiedlichen Gründen eine besondere und unvergessene bleiben, auch wenn Alex nach den Sommerferien nicht mehr in Julles Klasse zurückkehrt.

Stephan Lohse lässt Julle in der Ich-Perspektive auf eine feine Weise und erfreulicherweise ohne aufgesetzten Jugendjargon von einer Jungenfreundschaft erzählen, die für einen deutlich mehr ist. Julles Ängste, Unsicherheiten über seine Liebe zu Jungs oder seine feinen Beobachtungen über die unterschiedlichen Größen von Brustwarzen der anderen Jungs im Vergleich zu seinen eigenen, sind humorvoll und einfühlsam. Allerdings bezweifle ich, dass die Kommunikation in Familien und unter Schulkameraden Mitte der siebziger Jahre über Homosexualität so unaufgeregt und offen war, wie in Julles Familie und mit seinen Kameraden. Das ist mir ein wenig zu nostalgisch, unrealistisch aufgehübscht, auch wenn ich es in der Geschichte für Julle natürlich erfreulich finde.

Da ich selber Jahrgang 1967 bin, habe ich mich über manche Retro-Bezüge von Süßigkeiten und anderen Dingen (Marken) aus dieser Zeit schmunzelnd erinnert. Die durch Gips gehandicapte Frau Walther ist eine witzige Feministin, die Frauen liebt. Die gleichgeschlechtliche Liebe hier noch einmal auf diese Weise zu wiederholen, wirkt für mich zu aufgesetzt und komplikationsfrei. Realistisch ist allerdings die Tatsache, dass diese starke Frau Mitte der Siebziger nicht nur für Julles Vater ein rotes Tuch war.

Leider habe ich nicht verstanden, inwiefern die verbrannte Hütte, die gefundenen Röntgenfotos des 54 Jahre alten Karl Siebert, die Tatsache, dass Axel seine Vermutungen mit Beweisen untermauern konnte, mit Axels Nichtrückkehr nach den Sommerferien in Julles Klasse in Zusammenhang steht. Für mich bildete dieses Konstrukt nur die Verbindung zum Kennenlernen und für die gemeinsame Zeit der beiden Figuren.

Auch wenn es insgesamt eine unterhaltsame, sommerliche Freundschafts- und Identifikationsgeschichte ist, wird leider die allgemeine Atmosphäre gegenüber Homosexuellen Mitte der siebziger Jahre mit Retro-Charme verschönt. Trotzdem lernt Julle viel über sich und andere – auch wenn alles am Ende unrealistisch positiv für ihn endet.

Literaturkritiker und die Verlagswelt können sich an diesem Buch wieder an den Bezeichnungen abarbeiten, ob es dank der Protagonisten und Thema in das Genre „Jugendbuch“ einzureihen ist oder nicht, weil es ja in einem Belletristik-Verlag erscheint. Auf jeden Fall passt für diese lakonische, feinfühlige „coming of age“ und „coming out“-Geschichte die (von den Verlagen erfundene) Eingruppierung „all age„.

Das Cover passt zum Sommer, es fehlt mir aber ein weiterer Bezug zur Geschichte.

Sabine Wagner

Eingeschränkt

 

 

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