Tracey Lien
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wesel und Klaus Timmermann
Piper Verlag, 01.06.2023
336 Seiten, € 24,00
Cabramatta, eine Stadt in Australien, Mitte der neunziger Jahre. Denny, 18 Jahre alt, dessen Eltern aus Vietnam geflüchtet sind, ist in Australien geboren und ein hervorragender Schüler. Mit seinen engsten Freunden und einer Lehrerin feiert er den Abschluss der Highschool in einem angesehenen Fisch-Restaurant mit einem besonderen Essen und wird dort getötet. Seine vier Jahre ältere Schwester Ky, die in Melbourne als Journalistin arbeitet, kehrt zur Beerdigung zu ihrer Familie und ist fassungslos über ihre Unkenntnis und mangelndes Interesse über die näheren Umstände, wie Denny in dem Restaurant zu Tode gekommen ist, weil sie eine Obduktion abgelehnt haben. Da Ky ihren Eltern zugeredet hat, Denny zu diesem Abschlussessen gehen zu lassen, gibt sie sich die Mitschuld an dem brutalen Tod ihres Bruders und macht sich große Vorwürfe. Die Tatsache, dass keiner der Freunde, die mit an Dennys Tisch saßen, noch irgendein Gast des gut besuchten Restaurants eine Aussage gemacht hat, wie Denny zu Tode gekommen ist, lässt die verzweifelte Ky auf eigene Spurensuche gehen. Diese Nachforschungen ergeben eine lang verdrängte Auseinandersetzung mit ihren vietnamesischen Eltern, die die englische Sprache schlecht beherrschen und sich bis heute nicht in Australien angekommen fühlen.
Für die Eltern war und ist es nur wichtig, dass ihre beiden Kinder mit viel Fleiß, Strebsamkeit und auch Unterordnung eine leichtere wie bessere Zukunft haben als sie. Die schlimmen Erlebnisse, die die Eltern aus Vietnam haben flüchten lassen, wurden von ihnen nie ver- und aufgearbeitet und geben sie unbewusst als Trauma an ihre Kinder weiter. Erst durch Dennys Tod, den bohrenden Nachfragen und Feststellungen von Ky, wird ihnen klar, wieviel Druck, Zweifel und auch Ängste sie bei beiden Kindern aufgebaut haben. Es verdichten sich Gerüchte, dass Denny mit Drogen und Gangs Verbindungen hatte, was weder Ky noch die Eltern glauben. Er war ein hochbegabter Schüler, fleißig und brav.
Die junge Autorin Tracey Lien hat vietnamesische Wurzeln, arbeitete als Journalistin und ist in Cabramatta aufgewachsen. Sie war aber noch ein Kind, als die Stadt in den 1990er Jahren als Hochburg des Drogenhandels, insbesondere von Heroin, bekannt war, mit einer hohen Kriminalität durch Verstrickungen von verschiedenen Gangs inbegriffen. In ihrem Romandebüt erzählt die junge Schriftstellerin berührend und dennoch schnörkellos am Beispiel der fiktiven Familie Tran von dem schwierigen Leben geflüchteter Vietnamesen in Australien. Sie leben durch ihre Flucht aus Vietnam in ständigem Kampf mit dem Verlust von Heimat, der Sehnsucht nach ihren Wurzeln, der verzweifelten Suche nach Zugehörigkeit und dem oft begegnenden Rasssismus.
Zwischen Kys Nachforschungen lässt die Autorin auch verschiedene andere Figuren sprechen, die an dem Abend in dem Restaurant waren und über das Erlebte vehement schweigen. Sie alle vereint die Tatsache, dass sie Vietnamesen sind, was ein vielschichtiges Bild unterschiedlicher Lebensläufe und Charaktere über die gemeinsame Problematik dieser Einwanderer in Australien Mitte der neunziger Jahre abbildet. Trotz der Vielschichtigkeit zog sich genau deswegen für mich die Geschichte leider im Mittelteil, was auch an Kys Freundin Minnie lag, die von Beginn an als unsichtbare Zuflüsterin sie bei ihrem Tun verfolgt. Minnie war seit dem 10. Lebensjahr Kys engste Freundin und fast jeden Tag zu Gast in deren Familie, da sich ihre Eltern nicht um sie kümmern. Ende der gemeinsamen Highschoolzeit entfernen sich die Ansichten der beiden einst engsten Freundinnen immer mehr. Als Minnie sich in einen älteren Vietnamesen verliebt, der in Kys Augen keinen guten Charakter besitzt und in zwielichtige Geschäfte verwickelt ist, endet ihre Freundschaft in einem Streit und Minnie verschwindet von heute auf morgen aus Kys Leben. Seitdem hatte Ky keinen Kontakt mehr zu ihr, doch in Gedanken ist sie ihr stets präsent. Dieser „Geist“ an Kys Seite bleibt zunächst nebulös, das kann man schriftstellerisch gelungen betrachten, ich empfand dies zzunächst anstrengend und verwirrend. Ab einem bestimmten Punkt ist (leider) recht früh vorhersehbar ist, dass ihre Freundin neben dem ermorderten Denny die zweite Hauptrolle spielen wird.
Dennoch präsentiert der Debütroman mit dem treffenden Titel “All die ungesagten Dinge“ eine bewegende und trotz der Längen spannende und bewegende Geschichte mit einem komplexen, verflochtenen Bild von weitergegebenen familiären Trauma durch Flucht und Einwanderung, Rassismus und versuchter Migration.
Das Cover mit einem zerrissenen, roten und floral anmutenden „aoi dai“ passt perfekt und ist ein „eyecatcher“.
Sabine Wagner