Vigdis Hjorth
Aus dem Norwegischen von Gariele Haefs
S. Fischer Verlag, 27.09.2023
400 Seiten, € 24,00
Johanna wächst Ende der sechziger Jahre in einer konservativen, bürgerlichen Familie mit ihrer jüngeren Schwester Ruth in Norwegen auf. Der Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter Hausfrau. Nach den Vorstellungen der Eltern studiert Johanna Jura, ihr Talent und ihre Liebe zum Zeichnen und Malen, das sie von ihrer Mutter geerbt hat und die das auch bei ihr sieht, wird vom Vater mit Lächerlichkeiten abgetan. Als Johanna einmal erwähnt, dass sie gerne auf die Akademie für Kunst und Gewerbe gehen würde, wird das vom Vater mit herabsetzenden Worten und als zukunftslos auf der Akademie für „Brunst und Gemüse“ ohne jede weitere Diskussion abgetan. Als Johanna mit Mitte Zwanzig den Betriebswirtschaftler Thorleif heiratet, ist für ihre Eltern alles stimmig: Jura-Studium, ein Schwiegersohn aus gutem Hause mit einem Beruf nach ihren Vorstellungen. Kurz nach der Heirat besucht Johanna einen Kurs für Aquarellmalerei und lernt dort den Amerikaner Mark kennen, in den sie sich verliebt. Hals über Kopf verlässt sie ihren Ehemann, ihre Familie und sie geht mit Mark nach Amerika, wo sie sich in Utah niederlassen. Johanna schreibt ihren Eltern einen langen Brief, in dem sie ihre Gründe für ihren abrupten Weggang und Lebenswechsel erklärt und erhält von ihnen nur Vorhaltungen und Unverschämtheiten, wieviel Geld man in sie investiert habe und wie undankbar sie sei.
Nach der Scheidung von Thorleif heiratet Johanna ihre große Liebe und sie bekommen den gemeinsamen Sohn John. Ihr Talent zur Malerei kann Johanna in Amerika entwickeln und wird eine international erfolgreiche Künstlerin. Mit ihrem Weggang, der Tatsache, dass sie nicht nach Hause zurückkehrt, auch als ihr Vater schwer erkrankt, noch zu seiner Beerdigung kommt und obendrein ihre Mutter der Meinung ist, dass sie mit den Kunstausstellungen unter dem Titel „Kind und Mutter 1 und 2“ lächerlich gemacht wird, bricht ihre Familie jeden Kontakt zu ihr ab, was für Johanna keine Bedeutung hat.
Dreißig Jahre später, Mark ist schon einige Jahre verstorben, der Sohn arbeitet als Musiker mit seiner Familie in Kopenhagen, gibt es eine Ausstellung mit Retroperspektiven in Johannas Heimatstadt. Aus diesem Grund zieht Johanna wieder dorthin, auch weil sie plötzlich Kontakt zu ihrer Mutter suchen möchte.
Diese neu aufgebrochene Sehnsucht nach ihrer Mutter, das Ringen mit sich, der Vergangenheit und die zahlreichen verschiedenen Bemühungen, wieder in Kontakt mit der Mutter zu kommen, davon handelt die Erzählung aus Johannas Perspektive. Sie ist Ende Fünfzig, Mutter und Großmutter und hadert mit sich und der Frage, warum ihre Mutter jeden Kontaktversuch ablehnt. Johanna glaubt, dass ihre jüngere Schwester Ruth als unterstützende Person diesen Widerstand ihrer Mutter untermauert. Schließlich ist sie diejenige, die auf Unabhängigkeit und Freiheit verzichten musste bzw. verzichtet hat, um sich um die Mutter zu kümmern.
Der 400 Seiten lange innere Monolog Johannas mit sich selbst lassen weder Ruth noch die Mutter mit ihrer Sichtweise zu Wort kommen.
„Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von Dir zu haben“ (S. 99), ist die Grundlage, die der um sich selbst drehenden Erzählung deutliche Längen schenkt.
Dieser innere Monolog mit Rückblicken in Johannas Kindheit und dem Aufwachsen in ihrer Familie liest sich zunächst interessant und nachvollziehbar. Doch je länger Johanna sich nur mit sich und dem immer drängender werdenden Kontakt-Wunsch mit ihrer Mutter befasst, dreht sie sich damit einer Spirale ähnlich in einer krankhaften, manischen Ausprägung exzessiv und unerträglich nach oben. Das macht ihr Verhalten nach 30 Jahren mit dem auch von ihr gewollten Kontaktabbruch unglaubwürdig. Nicht einmal bemüht sich die Protagonistin um eine kritische Reflexion ihres Verhaltens oder übernimmt Verantwortung für ihren Kontaktabbruch, die Sichtweise ihres Bekannten Fred schiebt sie achtlos beiseite. Stattdessen liest man seitenweise sich wiederholende, groteske Versuche der Annäherung zur Mutter, verbunden mit bilderreichen Vorstellungen Johannas, wie oder was ihre Mutter heute vielleicht macht, denkt oder tut. Der einzige Moment, der eine gewisse nachvollziehbare Nah- und Berührbarkeit zeigt, ist der gemeinsame Kirchenbesuch, der von der Mutter unbemerkt bleibt.
Obwohl die Sprache der Autorin mich im Lesefluss gehalten hat und an einigen Stellen atmosphärisch ist (Übersetzung Gabriele Haefs), insbesondere wie sie ihre Beschreibungen von Natur, Landschaften und Tieren mit Johannas Gefühlen und Befindlichkeiten in Kontext bringt, habe ich mich irgendwann gefragt, für wen diese Geschichte interessant sein könnte?
Es gibt viele Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Kontaktabbrüche zu Elternteilen oder Geschwister haben, auch über Jahrezehnte hinweg. Sie sind meist gut überlegt und nicht aus einer spontanen Laune heraus entstanden, denn sie haben alle ihre Lebensgeschichte.
Die Aussage der Figur Johanna auf Seite 125, „dass sie schwer glauben kann, dass ihre Mutter unter gar keinen Umständen mit ihr sprechen möchte. Dass Kinder ihre Eltern verleugnen, ist verständlich, dass Eltern ihre Kinder verleugnen, noch dazu so hartnäckig, kommt selten vor“, hat mich das erste Mal an Klugheit und Lebenserfahrung der Protagonistin zweifeln lassen, was sie auf Seite 152 mit dem Satz „Mir fehlt niemand, das Einzige, was mir vielleicht fehlt, ist Erkenntnis“ bestätigt.
Zum Ende der Story, auf Seite 298, erhebt die Autorin den nicht zu ertragenden moralinsauren Finger: „(…) aber wenn der Mensch, dem Du weh getan hast, stirbt, bevor ihr eure Beziehungen gelöst habt, weil ihr niemals aufrichtig miteinander gesprochen habt, weil der Mensch nicht geschaffen ist für diese Gespräche, wird es vermutlich schlimmer sein und dir noch mehr Steine aufbürden, als es der Fall wäre, wenn ihr dieses aufrichtige Gespräch geführt hättet, versucht hättet, einander zu verstehen, so weit es eben möglich ist (…).“ Diese Aussage ist nicht nur pauschal verallgemeinert und anmaßend, sie zeigt auch, dass sich die Autorin nur polarisierend, aber nicht in die Tiefe gehend mit der Thematik auseinandergesetzt hat, sonst wüßte sie, dass es lebensrettende Beziehungslösungen zwischen Kindern und Eltern wie auch umgekehrt geben kann, die keiner Reue bedürfen, auch nicht am Sterbebett.
Danach folgt eine Zuspitzung der versuchten Annäherung Johannas mit ihrer Mutter, die einen Höhepunkt erreicht, die für mich die Qualität einer Seifenoper mit dramatischen Ende präsentiert.
Zugegeben, ich habe das Buch bis zum Schluss gelesen, weil die Story eine gewisse widersprüchliche Faszination und zugleich absolutes Unverständnis in mir auslöste. Unverständnis, da ich die Gedanken und das Ringen Johannas nicht nachvollziehen konnte und auch für unrealistisch halte; der finale Showdown mit der rettenden, er-lösenden Erkenntnis schlicht nur ein konstruiertes Mittel für ein dramatisches Ende darstellt.
Der 400 Seiten lange, mit sich ringende Monolog nach 30 Jahren überzeugten wie nachvollziehbaren Kontaktabbruch mit Mutter und Familie haben bei mir einen schalen, überdramatischen und unwirklichen Eindruck hinterlassen.
So klug und lebenserfahren wie die Autorin ihre Figur Johanna durchaus an anderen Stellen beschreibt, wäre sie bestimmt im Laufe ihres Lebens auf die Idee gekommen, sich der psychologisch-therapeutischen Auseinandersetzung über den Bruch zu ihrer Mutter zu stellen. Aber dann wäre die aufgesetzte, unrealistische und moralisierende Tragödie für diese Story einer unheilbar zerrütteten Beziehung verloren gegangen.
Vigdis Hjorth ist in Norwegen eine bekannte wie umstrittene Bestsellerautorin, die vielfach ausgezeichnet wurde und deren Werke in 27 Sprachen übersetzt sind. Mit ihrem Roman „Bergjlots Familie“ verarbeitete sie auch ihre eigene Familiengeschichte, der zu einem familiären wie öffentlichen Aufruhr führte. Es ist anzunehmen, dass die Autorin auch in der vorliegenden fiktiven und oberflächlichen, provozierenden Erzählung persönliche Erfahrungen eingebunden hat. Meine Frage, für wen dieser unendliche Monolog interessant sein könnte, blieb bis zum Ende unbeantwortet. Ich bin gespannt, ob dieses Buch hierzulande viele Leser*innen finden wird.
Das Cover ist wie der Titel stimmig.
Sabine Wagner
Obwohl ich das Buch bis zum Schluss mit einer ambivalenten Faszination gelesen habe, hat mich die Erzählung nicht überzeugt.